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"They named a brandy after Napoleon, they made a herring out of Bismarck,and Hitler is going to end up as a piece of cheese."

 

 

 

MICHAEL HANISCH

DAS BABYLON

GESCHICHTEN UM EIN BERLINER KINO ­MIT ABSCHWEIFUNGEN

Diese Publikation entstand mit Unterstützung der DEFA-Stiftung

Satz und Titelgestaltung: Detlef Helmbold
Druck und Bindung: KDD GmbH, Nürnberg

Einen direkten Bedarf gab es eigentlich nicht Kinos gab es genug in Berlin im wirtschaftlich unruhigen Jahr 1929, auch und vor allem in der Gegend um den Alexanderplatz. Ende 1928 und auch noch Anfang 1929 wußte niemand in Deutschland so ganz genau, wie das mit den Kinos weitergehen würde, ob der Stummfilm tatsächlich am Ende und der Tonfilm die Zukunft sei, ob sich Investi­tionen in die vielen schon vorhandenen Kinos lohnen noch würden. Mehrere „Kino-Wellen" hatte man schon erlebt, die Welle der zahlreichen kleinen „Floh-" oder „Handtuchkinos" am Anfang, dann die der neu gebauten respektablen Kino­paläste, der „Filmtheater" um 1912/13 und schließlich die gewaltige Welle der Kinoneueröffnungen als es Deutschland besonders schlecht ging, am Ende des verlorenen Ersten Weltkrieges, wo es Hunger und Elend gab, Wohnungsnot und extreme Armut - und an jeder möglichen Ecke ein neues Kino aufmachte...

In Deutschland gab es am 30. November 1929 genau 5076 Kinos.1 Allein in der Reichshauptstadt spielten ein Jahr zuvor schon exakt 378 Filmtheater, von denen 105 noch zusätzlich eine Bühnenschau anboten.2 Und am 11.April 1929 kam dann noch eines dazu: das „Babylon" am Bülowplatz in Berlins Mitte. Die Gegend brauchte wirklich kein weiteres Kino, sie war damals nahezu „overscreened" - wie Ende des Jahrhunderts bzw. sieben Jahrzehnte später der gängige „fachmänni­sche" Begriff im modernen „Wirtschaftsdeutsch" für eine Gegend mit zu vielen Kinos lautete. Seit 1909 bereits gab es am Alexanderplatz das U.T., das erste Ber­liner Union-Theater, dem bald an verschiedenen Plätzen der Stadt weitere folgen sollten. Am 30. August 1913 war am Weinbergsweg 16-17 - nur zwei Minuten vom Rosenthaler Tor - das 7.Berliner U.T. als „größtes Lichtspiel-Theater in Groß-Berlin" mit 1700 Plätzen eröffnet worden. Die U.T. waren ihrer Umgebung ange­passt. Das U.T. Unter den Linden, an der „Prachtstraße der Welt" sollte mondän-vornehm sein, im Westen lud das U.T. Kurfürstendamm (die spätere Filmbühne Wien) zu glanzvollen Filmpremieren ein. Und am Weinbergsweg - gegenüber dem populären Walhalla-Theater - nannte sich das U.T. stolz „Volks-Lichtspieltheater". Der Neubau - aus dem später der Ufa-Palastdes Nordens wurde - dominierte mit seinem Leuchtturm, von dem die Buchstaben U.T. strahlten, die Gegend.

Noch näher am Bülowplatz war jedoch die Münzstraße, Berlins vielbeschrie­bene „Kinostraße. Hier gab es sogar eines der ältesten deutschen Kinos, das „Abnormitäten-Welt-Biograph-Theater" von Pritzkow. Hier gab es mehrere „Floh­kinos", die schon 1909 Alfred Döblin als „Theater der kleinen Leute" beschrieben hatte. Mehrere von ihnen waren 1929 längst wieder verschwunden, waren durch die Filmpaläste vertrieben worden, die vor allem nach 1910 gebaut worden waren. Schon 1909/10 arbeitete in der Münzstraße, Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße ein junger Gymnasiast aushilfsweise als Filmvorführer: Gerhard Lamprecht. Der spätere Regisseur und fleißige Dokumentensammler aus der Geschichte des deutschen Kinos besuchte damals am Vormittag das Sophiengymnasium in der Weinmeister-straße, am Nachmittag oder Abend half er in einem Kino in der Münzstraße aus.

 

Und nun, fast zwanzig Jahre später, sollte noch ein weiteres Kino hinzukom­men. Ein Bedarf danach bestand also nicht, wohl aber gehörte in den zwanziger Jahren ein Kino von Anfang an zum städtebaulichen Konzept dieser Gegend. Hier, genau hier - und nicht, wie später immer mal wieder behauptet wurde, in der Gegend um die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße - befand sich einst das so legendäre wie berüchtigte Scheunenviertel. Dieses Areal, das im Norden von der Linienstraße begrenzt wird, hatte die Form eines Dreiecks, dessen Spitze unge­fähr dort lag, wo das Kino gebaut werden sollte: am Schnittpunkt von Kaiser-Wil­helm-Straße (heute Luxemburgstraße), Weydinger Straße und Hirtengasse. Das Scheunenviertel hatte seinen Namen noch im vergangenen Jahrhundert nach den vielen Scheunen und Ställen bekommen, die sich hier, am Rande der alten Stadt Berlin, befanden. Nach dem Abriss des gesamten Viertels in den Jahren 1906 bis 1908 blieb der Babelsberger Platz (wie der spätere Bülowplatz bis 1909 hieß) län­gere Zeit als freie Fläche erhalten. Auf diesem großen freien Platz konnte deshalb in jenen Jahren immer mal wieder ein Zirkus gastieren. Die Debatten über die wei­tere Bebauung setzten sich über die Jahre fort Niemand hatte einen wirklich rea­lisierbaren Plan für diesen Platz am Schönhauser Tor, der längst in die Mitte der Stadt gerückt war. Eine Fläche über 32 221 m2 bot die Stadt Berlin zum Verkauf für 6,5 Millionen Mark an.3

Bis dann plötzlich im April 1913 der Volksbühnen-Verband für 1,77 Millionen Mark einen Teil des Geländes für einen Theaterneubau nach Plänen von Oskar Kaufmann kaufte.4 Der Bau - innerhalb sehr kurzer Zeit zwischen dem 13. Sep­tember 1913 und 30. Dezember 1914 realisiert - galt damals als erster moderner Theaterbau der Reichshauptstadt Es war ein erster und auch noch für längere Zeit einziger Schritt zur Bebauung dieses Geländes. Überliefert sind Fotos von den Bauarbeiten, die die ganze leere Weite des Platzes zeigen. Bei der Eröffnung des Theaters war schon Krieg. Ein Glück für die Bauherren, daß man schon 1913 zu bauen begonnen hatte. In einem Krieg, der sich bald schon zu einem Weltkrieg ausweiten sollte, hätte man ganz gewiß keine finanziellen Mittel mehr für einen Theaterneubau gehabt.

Im Sommer 1915 übernahm Max Reinhardt die Leitung des Hauses und fügte damit seinem Imperium nach Deutschem Theater sowie Kammerspielen noch ein drittes Theater hinzu. Am 1.September 1915 war Premiere von Schillers „Die Räuber". Die Stars des Deutschen Theater spielten da: Paul Wegener als Franz Moor, Emil Jannings als Hermann, Paul Hartmann als Karl. Und in der relativ kleinen Rolle des Schufterle war ein damals 24-jähriger Schauspieler zu sehen, der seit vier Jahren zum Reinhardt-Ensemble gehörte und der jetzt in der Volksbühne zumindest geographisch in seine Heimat, seinen eigenen Kiez zurückgekehrt war: Ernst Lubitsch. Geboren war er 1892 in einem heute nicht mehr existierenden Haus Lothringer Straße 82a; die Lothringer Straße, die in der DDR den Namen Wilhelm-Pieck-Straße erhielt und nach der Wende zur Torstraße wurde. Das Haus stand an der Ecke, wo heute noch die Straßenbahn in die Alte Schönhauser ein­biegt Aufgewachsen war Lubitsch jedoch im noch heute existierenden Haus Schönhauser Allee 183. Von dort, aus einem Fenster der Wohnung im zweiten Stock konnte der kleine Ernst auf das Scheunenviertel sehen. Am Scheunenviertel entlang ging er auch auf seinem täglichen Schulweg ins Sophiengymnasium. Wahrscheinlich ging er die Alte Schönhauser hinab, mied das Scheunenviertel, wo es nicht nur nach Kuhstall und Pferdemist stank, wo sich mitunter auch viele dun­kle Gestalten herumtrieben. Seine braven Eltern Anna aus Wriezen an der Oder und Simon Lubitsch aus Grodno, Rußland hatten ihm gewiss eingeschärft, diese üble Gegend zu meiden und schnurstracks in die Schule zu gehen...

Jetzt gab es kein Scheunenviertel mehr und Ernst war ein vielbeschäftigter Schauspieler bei Reinhardt in einem repräsentativen neuen Berliner Theater. Er stand oft auf der Bühne der Volksbühne, spielte viel, war beispielsweise der Lan-zelot im „Kaufmann von Venedig", war bei „Viel Lärm um Nichts" und dem „deut­schen Krippenspiel" „Der Stern von Bethlehem" dabei. 1916 war er der Herbergs-wirt Kostylew in Eduard von Wintersteins Inszenierung von Gorkis „Nachtasyl". Und so ganz nebenbei begann der Junge aus der Schönhauser Allee sich in einem ganz anderen Medium eine Karriere als Schauspieler und vor allem als Regisseur aufzubauen... Seine ersten Filme liefen u.a. auch im bereits im Jahre 1909 eröff­neten U.T.Alexanderplatz. Alles lag ganz dicht beieinander damals in Berlin.

Das „Babylon" gab es damals noch nicht Es dauerte noch bis zur Eröffnung des Kinos anderthalb Jahrzehnte - von der Einweihung der Volksbühne an gerech­net. Als das Kino zu spielen begann, war der kleine Lubitsch schon ein ganz gro­ßer Regisseur und Produzent in Hollywood. Seine Filme erlebten ihre deutschen Erstaufführungen längst nicht mehr im Berliner Norden, sondern im Westen, in den großen Kinopalästen. Im April 1929, als das „Babylon" begann, fand die deut­sche Erstaufführung von Lubitschs letztem Stummfilm „Eternal Love" (Der König der Bernina) im Universum-Kino am unteren Kurfürstendamm statt Zwei Monate zuvor war im Gloria-Palast am oberen Kurfürstendamm Lubitschs „The Patriot" (Der Patriot) erstaufgeführt worden. In der Titelrolle war der Schauspieler zu sehen, mit dem zusammen Lubitsch im Herbst 1915 in der Volksbühne auf den Brettern gestanden hatte: Emil Jannings.

 

In der Nachkriegszeit sowie während der Inflation war es natürlich unmöglich, irgendwelche Pläne zur weiteren Bebauung des Bülowplatzes zu realisieren. Ande­rerseits bedeuteten die Lebensverhältnisse in den engen Gassen rund um den Platz sozialen Sprengstoff. Hier war eine hoch explosive Mischung aus Slum und ostjü­dischem Ghetto entstanden. Lubitschs Kollege, der große Menschendarsteller Ale­xander Granach hat hier gewohnt und die Tochter eines Rabbiners Mischket Lie-bermann. Sie schrieb in ihren Erinnerungen: Münzstraße, Grenadierstraße, Dragonerstraße, Schendelgasse, Mulackstraße... Ein Armenviertel, ein Scheunenvier­tel. Auch ein Hurenviertel. So eines, wo die Alten, Verbrauchten auf den Strich gingen. Ich denke an das Stück Mittelalter zurück, das es in der Nähe vom Alex gab, an das Ghetto, in dem ich meine Kindheit verbrachte. Ja, auch in Berlin gab es ein Ghetto. Ein freiwilliges. Lange vor Hitler. Genauer - bis zur Hitlerei. Denn dann gab es die unfreiwilligen. Und die Gaskammern.

Das Ghetto lag in der Grenadierstraße und ihrer Umgebung. Zwischen dem Bülowplatz, dem heutigen Luxemburgplatz, und der Münzstraße. Ausgerechnet in dieser Gegend hatten sich die Ostjuden niedergelassen, die 1914 vor den Kriegs­wirren aus Galizien geflüchtet waren. Was heißt ausgerechnet. Natürlich hatte das seine guten Gründe. Hier gab es die billigsten Wohnungen und die wenigsten Antisemiten. Einer folgte dem anderen nach. Bald wohnten sie Haus an Haus, Tür an Tür. Im Zusammenrücken glaubten sie Schutz zu finden, und wer weiß, viel­leicht auch ein Stückchen Heimat.5

Das ehemalige Scheunenviertel mit seinen benachbarten Straßen besaß eini­gen sozialen Sprengstoff. Polizeirazzien waren an der Tagesordnung. Kurze Zeit nach Ende des Weltkrieges schrieb der Berliner Polizeipräsident in der Angelegen­heit an das Preußische Innenministerium und begründete dabei die wiederholten Razzien seiner Beamten: Seit Ausbruch der Revolution hat sich in einem Teil des alten Scheunenviertels, der Grenadier-, Dragonerstraße und Umgebung ein wah­res Getto entwickelt, das im Berliner Volksmunde allgemein als die jüdische Schweiz bezeichnet wird. Es wimmelt hier von großen Elementen unlauterster Art, die nicht nur in kriminalistischer, sondern auch politischer Beziehung überaus gefährlich sind, weil sie aus ihrer, polnisch-russischen Heimat bolschewistische Ideen hier einführen und weiterverbreiten. Dazu wird die Volksgesundheit durch diese Einwanderer stark gefährdet Der Begriff Reinlichkeit ist diesen Leuten voll­kommen fremd. Die mit Bewohnern unglaublich überfüllten Wohnungen starren

 

vor Schmutz und Ungeziefer. Gleichzeitig sind sie angefüllt mit Lebensmitteln und Delikatessen aller Art, die im Wege des Schleichhandels erworben und weiterverschoben werden. Schließlich sei noch erwähnt, daß die vorhandene große Wohnungsnot zum Nachteil der einheimischen steuerzahlenden Bevölke­rung durch Aufnahme einer solchen Menge von Ausländern unnötigerweise wei­ter gesteigert wird. Irgendwelche Rücksichten auf diese Existenzen, die hier kei­nerlei ehrliche Arbeit leisten, keine Steuern zahlen, sich jeglicher Kontrolle ent­ziehen, andererseits aber jede Gelegenheit benutzen, um die deutschen Gesetze zu umgehen und das deutsche Vermögen zu schädigen, oder gar zu vernichten, dürfte völlig überflüssig sein. Vielmehr wäre es mehr als nötig, diese Ausländer bis zur Abschiebung in ihre Heimat in Gefangenenlagern unterzubringen oder, richtiger gesagt, unschädlich zu machen:5

Berlin, Deutschland im Jahre 1920. Die Sanierung des Bülowplatzes hatte durchaus eine politische Bedeutung. Die Baracken und Ställe des eigentlichen Scheunenviertels waren zwar abgerissen worden, die elenden Häuser der näheren Umgebung aber stehen geblieben. Erst Mitte 1925 war ein städtebaulicher Wett­bewerb zur weiteren Bebauung des Bülowplatzes ausgeschrieben worden, den der Architekt Johann Emil Schaudt gewann. Schaudt, wie auch die Autoren der ande­ren eingereichten Entwürfe, hatten sich deutlich vom Belle-Alliance-Platz in der südlichen Friedrichstadt inspirieren lassen, einem der römischen Piazza del Popo-lo nachempfundenen Platz.

Eine schöne Idee: neben der Volksbühne sollte die Volkshochschule, das Stadt­archiv und die Berliner Stadtbibliothek stehen, auch ein Stadtbad, eine soge­nannte Volkshalle und Teile des Bezirksamtes von Berlin-Mitte waren für den Platz vorgesehen. Und gegenüber ein Kino. Die Idee war sehr schön, die Realisierung erwies sich jedoch als undurchführbar. Besonders weit gediehen waren die Ent­würfe für einen Neubau für die Berliner Stadtbibliothek am Bülowplatz. „Die modernste Bibliothek Deutschlands" sollte dort errichtet werden: Mit dem Bau der neuen Berliner Stadtbibliothek am Bülowplatz wird in diesem Sommer begon­nen werden. Die Grundrissgestaltung der neuen Bauten, die die Volksbühne links und rechts flankieren, darf als überaus glücklich bezeichnet werden. Die städte­bauliche Dominante der Volksbühne bleibt vollkommen gewahrt Während der Neubau links von der Volksbühne als Bibliothek verwendet werden soll, wird der rechte Flügel Verwaltungsräume enthalten, in denen auch Unterrichtssäle für die Volkshochschule untergebracht sind. Durch die beiden Flügelbauten ist der Platz­bau völlig geschlossen. Die Zusammenziehung der Baugruppe wird noch unter­strichen durch eine verbindende Pfeilerstellung. Die nach den Entwürfen des Baurats Ermisch herzustellenden Bauten werden vierstöckig sein; sie werden ein, Stahlskelett mit Muschelkalkplattenverkleidung erhalten. Der sich nach aussen biegenden Kurve der Volksbühne folgt als Gegenbewegung die sich nach inne biegende Front der neuen Gebäude.

Das Kernstück der neuen Bibliothek, die nach den neuzeitlichsten Grundsät zen angeordnet wird und die modernste Bibliothek Europas darstellen dürfte, is das große, durch alle Geschosse gehende Magazin, dessen Ausmasse der Ent wicklung der nächsten 50 Jahre bereits Rechnung tragen.

Die Fenster dieses Magazins bleiben vollkommen geschlossen, um den Staul der Strasse fernzuhalten. Die Re- und Durchlüftung erfolgt mittels gewaschene Luft Der 425 Quadratmeter große Lesesaal ist so angeordnet, dass er überal Anschluss an das Magazin hat Unter dem Lesesaal im Erdgeschoss liegt die zen­trale Buchausleihe. In den oberen Geschossen findet das Stadtarchiv Platz. Di( beiden Gebäude lehnen sich in den Maßen an die Volksbühne an, indem die Hauptgesimshöhe beiderseitig nicht überschritten wird/

Die Pläne für den Neubau der Stadtbibliothek waren offenbar schon so weil gediehen, daß Mitte 1929 eine erste Rate für den Baubeginn bereits bewilligt worden war... Trotzdem wurde aus dem Projekt nichts. Genauso wenig aus einem Beethoven-Denkmal, das im März 1927 zum 100.Todestag des Komponisten auf dem Bülowplatz errichtet werden und für das u.a. Ernst Barlach und Georg Kolbe Entwürfe einreichen sollten.

Die Verzögerungen bei der Neugestaltung des Bülowplatzes hatten verschie­dene Gründe. Einer lag in den ungeklärten Eigentumsverhältnissen. 120 Grund­stücke waren nach dem Abriss der Scheunen frei geworden. Sie wurden zum gro­ßen Teil von der Stadt an Privatunternehmer verkauft Krieg, Nachkrieg und Infla­tion führten immer wieder zu Verzögerungen und Stillstand. Mehrere Prozesse schlossen sich an. Erst im Sommer 1927 kam es zwischen der Stadtverwaltung und der Industrie-Baugesellschaft Zentrum, dem Besitzer des Areals zu einem Ver­gleich: Der Stadt Berlin wurden zwei Baublocks, rechts und links von der Volks­bühne, übertragen und die restlichen dreizehn Blocks auf dreißig Jahre an die Baufirma Alfred Schrobsdorff verpachtet. Dafür übernahm Schrobsdorff die Ver­pflichtung, sofort mit dem Bau zu beginnen.8

Verpachtet auf dreißig Jahre. Das wäre bis 1957 gewesen. Dreißig Jahre später sah es allerdings ein wenig anders aus am Bülowplatz, der zu jener Zeit schon wieder einen anderen Namen hatte. Und die Charlottenburger Baufirma Alfred Schrobsdorff AG, zu der in den frühen dreißiger Jahren auch noch eine Bauspar AG, eine Finanz GmbH, eine Immobilien AG und eine Normenbau AG gehörten, hatte 1957 in jenem Teil Berlins, der sich reichlich großspurig „Demokratischer Sektor" nannte, nichts mehr zu sagen.

Es ist zu vermuten, daß auch die längere Zeit nicht erfolgte Neubesetzung wichtiger Posten des Siedlungs- und Wohnungswesens im Magistrat mit ein wei­terer Hauptgrund für die Verzögerungen war. Erst 1927 änderte sich das. Es gab einen neuen Namen im Zusammenhang mit den Plänen für die Neugestaltung des Areals: Architekt Hans Poelzig. Er war einer der ganz wenigen deutschen Archi­tekten, in dessen Arbeit es direkte Beziehungen zum Kino, zum Film gab. Bereits 1918 hatte er mit Paul Wegener zusammen gearbeitet Er schuf die Entwürfe für den Film „Der Golem, wie er in die Welt kam" (darunter auch für die vielbewun­derte Judenstadt, die auf dem Ufa-Freigelände in Berlin-Tempelhof errichtet wurde). Später war er an Wegeners „Lebende Buddhas" und an „Zur Chronik von Grieshuus" beteiligt In jenen Jahren hatte er aber nicht nur aus dem Berliner Zir­kus Schumann Max Reinhardts Grosses Schauspielhaus gebaut, sondern auch bereits zwei Kinos entworfen: 1911 entstand innerhalb eines Geschäftshauses in der Breslauer Junkernstraße das „De-Li" und 1925 dann in Berlin-Charlottenburg das große, 1280 Zuschauer fassende „Capitol" an der Gedächtniskirche in unmittelbarer Nachbarschaft der beiden großen Kinos Gloria- und Ufa-Palast am Zoo.

Am 11.April 1929 war endlich Eröffnung des dritten Poelzig-Kinos. Über 1299 Plätze verfügte das Theater, neunzehn mehr als das „Capitol" am Kurfürstendamm: 932 Plätze im Parkett 242 in den Parkettlogen, 229 im Rang und 96 in den Ranglogen. Fast alle Berliner Zeitungen berichteten mehr oder weniger ausführ­lich über die Eröffnung des neuen Kinos. Die sogenannte Fachpresse ging ins Detail. Ganz besonders das „Reichsfilmblatt":

So wandelt sich Berlin. Im alten Berliner Scheunenviertel, fast neben dem Rie­senbau der Volksbühne, ein neues Kinoschmuckkästchen. Der bewährte Kino­fachmann Alfred Lampl ist der Eigner, der Kinoerbauer Leo Czuczka hat es erbaut, der tüchtige Direktor Arthur Rupp leitet es. Am Platze sehr kleine Front, in der Seitenstraße auffallende Fassade. Nachts Bogenlampenreihe hier, dort ein Verti­kal-Laufschild, farbig, abwechselnd, ein Lichtwort „Babylon': Heller Ton mit roten Pfeilern im Vorraum wie im 1200 grün gepolsterte, bequeme Sitze fassenden Saal. Unten, als Beschluß, Logen. Ebenso auf dem grünbesponnenen Balkon. Diener in roter, goldstrotzender Uniform, Platzanweiserinnen lichtblau uniformiert Richtige Kino-Varietebühne ohne Versenkung und Schnürboden. Proszenium 8,25 m, Höhe 8 m, Tiefe 9 m. Heizung und Ventilation überall. Bühnenvorhang glatt, ein­farbig, umrankt von im Saal fortgesetzten, diffus wirkenden Lampenglocken. Vor­führräume mit bequemer Sondertreppe und Zugang vom Dach, die Rückwand des Balkons bildend. Zwei Operateure herrschen hier. Bei der Premiere handhaben Mechau und sein langjähriger Adlatus Blosselt die beiden Apparate mit opti­schem Ausgleich. Distanz 29 m, Bildgröße

6:4 ? m, gesteigerte Feuersicherheit.

Bei der Eröffnung Bühnenapotheose, lebende Statuen, das Wort „Babylon" for­mend. Ouvertüre. 16 Mann Orchester, Dirigent Pasquale Perris. Dann Einweihung der seitlich stehenden Philipps-Orgel durch Peter Palla, virtuos auf allen Regi­stern über 50 für Orchester und Jazzbandersatz nebst allen möglichen, vielen neuen Geräuschen. Alles in zwei Manualen gemeistert. Auf der Bühne das Ale­xander Oumansky-Ballett vom Roxy-Haus in New York mit Berinoff und Eulalia, Uriel Lawrence, Keith Lester und Peggy White. Im Film Elisabeth Bergner als „Fräulein Else':

Nimmermüde Beifallspender bewundern im Vestibül unzählige herrliche Blumen­spenden, stauen sich beim Schreiten im Promenoir oder vor dem Konfektladen, im Balkon, im Foyer, im Automatenrestaurant oder im Barsalon, freuen sich, bequem die Garderobe erlangt zu haben und spenden auf der beiderseitigen Freitreppe volles Lob. Vor dem Portal eine beängstigende Zuschauermenge.9

Von der „größten deutschen Kinoorchesterorgel" waren offenbar alle Journa­listen sehr beeindruckt Hoben sie doch ganz besonders die verschiedenen Geräu­sche und Laute hervor, die man aus ihr „hervorzaubern" konnte: Pferdegetrappel, Autohupen, Telefon, Feueralarm. Es waren all die Geräusche, die zur gleichen Zeit ein neuer Berufsstand in den zu Tonfilmateliers umgebauten Glashäusern direkt auf den Filmstreifen „zauberten":.. Genau in den Tagen der Eröffnung des „Baby­lon" hielt der Präsident des Hollywood-Studios der Warner Bros. Harry M.Warner im vornehmen Berliner Hotel Esplanade eine Rede über die Zukunft des Tonfilms und die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Amerika auf diesem Gebiet

Eine Fachzeitschrift, die „Deutsche Instrumentenbau-Zeitung" widmete sich 1929 in ihrer Rubrik „Orgeln und Harmoniums" detailliert der Orgel im „Babylon": Philipps Kino-Orchester-Orgel. Das neueste Werk der Firma Philipps A-6., Francfurt a.M., wurde einem geladenen Kreis von Gästen am 18. d.M. in Berlin vorge­führt. Die Philipps-Kino-Orgel hat in dem neu eröffneten „Babylon-Kino-Variete in Berlin am Bülowplatz Aufstellung gefunden. Das zu Gehör gebrachte Konzert-Programm durch Herrn Peter Palla, Amsterdam, vorzüglich vorgetragen, zeigte die ganze Vielseitigkeit dieses Orgeltyps, der als Unterstützung für die Kinomusiker gedacht, daneben in Zusammenarbeit mit dem Orchester die Vorgänge auf der Leinwand wirkungsvoll zu illustrieren vermag. Starker Beifall nach jeder einzel­nen Programmnummer dankte dem Vortragenden, galt aber in gleicher Weise auch diesem Qualitätsinstrument, dessen Präzision im Spiel die Bewunderung der Zuhörer immer von neuem hervorrief.

Das 1. Manual zählt 25 Register und 8 Effekte, welche beim Spielen auf dem 1. Manual in Tätigkeit treten. Hieran reihen sich die 28 Register für das IL. Manu­al. Eine zweite Reihe von Registerzungen bringt zuerst die 18 Pedalregister, dann die Effekte, welche beim Pedalgebrauch erklingen und endlich noch 14 Zungen für das Beiwerk. Die verschiedenen Farben der Registerzüge erleichtern die Übersicht beim Registrieren. Dicht über der Klaviatur des II. Manuals, während des Spielens bequem erreichbar, sind als Druckplättchen die zehn festen Kombinationen nebst dem Auslöser. Daneben befinden sich die Koppeln. Außerdem besitzt die Orgel aber auch noch vier freie Kombinationen. Es sind kleine Registerzüge, durch welche es dem Organisten ermöglicht ist, sich beliebige Registermischungen vorbereitend zusammenzustellen, die er dann im gegebenen Falle sofort in Wirksamkeit treten lassen kann. - Auf die Vielfarbigkeit der Einzelregister wurde größter Wert gelegt Vom dunklen Gedockt bis zur hell streichenden Aeoline sind alle Klangstufen ver­treten. Neben dem grundlegenden Prinzipal hört man die beliebte Lotosflöte und die neue Tibia Clausa. Besonders charakteristisch erweisen sich die vier Zungen­stimmen. Neben dem starken Trompetenton die schmeichelnde Klarinette, das geschwätzige Saxophon und die besonders schwellbare sanfte Vox humana. Die Erhöhung des Winddrucks auf 250 Grad trug nicht wenig zur abgegrenzten Klang­wirkung der verschiedenen Register bei. In vielen Fällen kommt man hier mit Ein­zelregistern aus, wo man sonst zu Registergruppen greifen müßte. Die starke Ton­gebung, welche der hohe Winddruck bedingt, wird endlich gemildert durch den Jalousieschweller. Mittels eines Balanciertrittes lassen sich die Schwellbretter, jedes einzelne besonders, öffnen, wodurch der Ton jedes einzelnen Registers wie auch des ganzen Werkes nach Belieben besonders hervortreten kann. Die neue Kino-Orchester-Orgel dürfte berufen sein, die ausländische Konkurrenz, mit wel­cher leider der heimische Kino-Orgelbau zu rechnen hat, endlich aus dem Felde zu schlagen. Der deutsche Orgelbau hatte ein volles Jahrhundert in der ganzen Welt eine führende Stelle, und es ist schon bedauerlich genug, daß bei der Kino-Orgel diese Konkurrenz überhaupt aufkommen konnte. 70

Daß der aufkommende Tonfilm das Ende der Kinoorgeln überall bedeuten würde, darauf kam der enthusiastische Fach-Berichterstatter eigenartigerweise gar nicht. Blieb der Name des Kinos. So ungewöhnlich war er eigentlich ja nicht Wie viele Kinos in aller Welt hatten schon damals reichlich protzige Namen, nannten sich Colosseum, Roxy, Palladium, Cosmos, Luxor, Bellevue oder Aladdin? Eine ganz eigene Deutung des Namens „Babylon" soll 1929 ein Berliner Polizist gegeben haben. Das „Berliner Tageblatt" berichtete:

„Babylon" nennt sich das neue Kino, das Hans Poelzig in seinem Häuserkom­plex am Bülowplatz, links von der Oskar Kaufmannschen „Volksbühne" gebaut hat. Warum es „Babylon" heißt? Ein verständnisvoller Schutzmann meinte, aus dem Grunde, weil es aus dem alten „Schutthaufen" herausgewachsen wäre.11

Das „Babylon" war von Anfang an nicht als Premierenkino konzipiert Die Pre­mieren fanden 1929 und später nach wie vor im Westen, rund um die Gedächtni­skirche, am Nollendorfplatz statt Man hätte annehmen können, daß zumindest die wenigen „linken" Filme hier am Bülowplatz uraufgeführt worden wären, wo vor allem das Publikum lebte, das man mit diesen Filmen in erster Linie erreichen woll­te. Doch dem war eigenartigerweise gar nicht so. Als beispielsweise die proletari­sche Prometheus-Filmgesellschaft am 30.Dezember 1929 den vielbeachteten „Zille-Film" „Mutter Krausens Fahrt ins Glück" von Piel Jutzi uraufführen wollte, ging sie nicht ins „Babylon" sondern in das 1000 Zuschauer fassende Kurfürstendamm-Kino „Alhambra" (Kurfürstendamm 68, am heutigen Adenauerplatz). Genauso war es mit den großen Russenfilmen jener Jahre. So wurde Eisensteins „Staroje i nowoje" (Der Kampf um die Erde) im Mozartsaal am Nollendorfplatz für Deutschland erstaufge­führt Ein Grund für das Ignorieren des neuen Kinos am Bülowplatz mag vor allem seine geographische Lage gewesen sein. Im Berliner Osten fanden schon aus Tradi­tion keine Filmpremieren statt. Die Verleiher mußten möglicherweise mit geringe­rer Resonanz rechnen, wenn sie ihre Filme am Alexanderplatz starteten.

Es gab allerdings einige wenige Ausnahmen. Ausnahmen, die wahrscheinlich vor allem ihren Grund in den fehlenden freien Kinos im Westen hatten. So ließ die deut­sche Filiale der amerikanischen Foxfilm ihre deutsche Produktion „Cyankali" am 23. Mai 1930 gewiss nicht deshalb im „Babylon" anlaufen, weil sie vor allem hier, im Ber­liner Osten, gegenüber der Volksbühne ihr Publikum vermutete. Die Premiere des Stückes fand im September 1929 in der Inszenierung der Gruppe junger Schauspie­ler nicht in der Volksbühne sondern im Lessing-Theater statt. Vor der Filmpremiere im „Babylon" ein Jahr später sprachen der Autor Friedrich Wolf und auch der schon damals sehr bekannte Sexualforscher Magnus Hirschfeld. (1948, achtzehn Jahre spä­ter spielte dem Rezensenten der Zeitung „Neues Deutschland" offenbar sein Gedächtnis einen Streich, als er behauptete, das „Babylon" sei mit dem Film „Cyan-kali" eröffnet worden. Im Mai 1930 spielte das Kino bekanntlich schon über ein Jahr)

 

Eine weitere seltene Erstaufführung erlebte der Bülowplatz am 28.Januar 1931. Vermutlich fand der Prometheus-Filmverleih ebenfalls kein Premierenkino im Westen für die Erstaufführung des sowjetischen Revolutionsfilms „Transport ognja" (Feuertransport) von Alexander lwanow. Und so wich man eben ins „Baby­lon" aus. Eine Geschichte aus dem vorrevolutionären Rußland des Jahres 1906 wurde hier erzählt Es ging um Terrorismus und die zaristische Geheimpolizei. Obwohl das Buch für diese Lenfilm-Produktion die beiden später bekannten Auto­ren bzw. Regisseure Alexander Sarchi und losif Chejfiz geschrieben hatten, war das künstlerische Ergebnis des Films eher enttäuschend. Die deutsche Presse vermute­te gewiß zu recht daß hier Epigonen versuchten, sich eines Themas zu bedienen, mit dem andere, bedeutendere vor allem in Westeuropa großen Eindruck gemacht hatten. Dazu wurden zwei Kurzfilme gezeigt: der Sportfilm „Lachendes Leben" -Ein Film von Tanz, Rhythmus und Freikörperkultur- sowie der erste Zeichentrickfilm von Meshrabpomfilm, Moskau „Münchhausen" (in einer Bearbeitung durch den deutschen Regisseur Piel Jutzi). Der Rezensent der sozialistischen Tageszei­tung „Berlin am Morgen" berichtete von der Erstaufführung aus dem „Babylon": Bei der Entlarvung des Spitzels, den Kämpfen mit der Polizei kam es zu stürmi­schen Beifallsäußerungen des ausverkauften Hauses.I2 Es herrschte damals schon eine extrem aufgeheizte politische Stimmung in der Stadt Knapp zwei Monate zuvor hatten die Faschisten am Nollendorfplatz mit Hilfe von gezielten Aktionen gegen den amerikanischen Remarque-Film „All Quiet an the Western Front" (Im Westen nichts Neues) ihren Einzu.g in Berlins Westen gehalten. Der Film wurde daraufhin vorerst verboten. Dafür kam Gustav Ucickys „patriotischer" Ufa-Film „Das Flötenkonzert von Sanssouci" in die Kinos - was wiederum zu zahlrei­chen Protesten der liberalen Linken führte. Der Preußen-Film erhielt die Prädika­te „Künstlerisch" und „Volksbildend", die Russenfilme „Feuertransport" und „Golu-boj ekspress" (Der blaue Express) von Ilja Trauberg waren weder das eine noch das andere. Vom „Feuertransport" wurde sogar ein Schaukastenfoto im Kino als „auf­reizend" verboten.

Und was geschah zu der Zeit gegenüber, beim großen Bruder in der Volksbüh­ne? Im deutschen Kino des Jahres 1929 herrschte Nervosität und Unsicherheit, niemand wußte genau, wie der Weg des Kinos weiter verlaufen würde. Aber auch im Theater gab es viel Unruhe, aus unserer heutigen Perspektive allerdings erscheint sie wie eine weitaus produktivere Unruhe. Das politische Theater trium­phierte damals, erlebte seine letzte Hochphase. Doch weniger in der Volksbühne am Bülowplatz, sondern anderswo. Vor allem am Nollendorfplatz, wo im Septem­ber 1929 die Piscator-Bühne mit Walter Mehrings „Kaufmann von Berlin" begei­sterte. Damit wurde Theatergeschichte geschrieben. Auch mit Friedrich Wolfs

 

Stück „Cyankali", mit dem die Gruppe Junger Schauspieler - unter ihnen Gerhard Bienert - zur gleichen Zeit im Lessing-Theater gastierte. Aufsehen erregte auch die Aufführung von Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt" mit Lotte Lenya und Peter Lorre im Theater am Schiffbauerdamm. Oder das populäre Unterhaltungs­theater, wo Curt Bois in „Charleys Tante" Eindruck machte. Die Volksbühne war durch den Weggang von Piscator etwas an den Rand der Ereignisse gedrängt. Zumindest vom Thema her konnte das Theater im November 1929 mit Hans J.Reh-fischs Stück „Affäre Dreyfus" wieder mit einiger Aufmerksamkeit rechnen. Die Schauspieler - Heinrich George, Oskar Homolka, Friedrich Kayßler - taten das Ihri­ge, damit das Stück über sechs Wochen am Bülowplatz gespielt werden konnte. Im Mai, als das Kino eröffnet wurde, standen im Theater vor allem zwei neue Stücke auf dem Spielplan: Curt Corrinths „Trojaner" und Eleonore Kalkowskas „Josef" über den Justizskandal Jacubowsky. Politisches Theater auch hier, ging es doch in „Josef" um die Abschaffung der Todesstrafe, ein Thema, das damals genauso leidenschaftlich debattiert wurde wie die Abschaffung des berüchtigten Abtreibungsparagrafen 218. Das Theater wollte auch dabei seinen Debatten-Bei­trag liefern. Ist es ein Zufall, daß beide Stücke Jahrzehnte später von der DEFA als Basis für zwei Filme genutzt wurden? Nach „Trojaner" drehte 1956 der junge Regisseur Jänos Veiczi „Zwischenfall in Benderath" und 1962 inszenierte Carl Bal-haus bei der DEFA den Film „Mord ohne Sühne" nach dem Stück „Josef". 1929, als „Josef" in der Volksbühne auf dem Spielplan stand, kam nur einige Wochen spä­ter ein Regisseur aus Hollywood nach Berlin, der alsbald an die Besetzung seines Ufa-Tonfilms nach Heinrich Manns Roman „Professor Unrat" ging. Er ließ die klei­ne Rolle eines Pennälers von Carl Balhaus spielen, denselben Balhaus, der 1962 in Babelsberg „Mord ohne Sühne" drehte. Es hängt alles irgendwie zusammen, immer wieder schließen sich irgendwelche Kreise... Und wo wurden 1956 bzw. 1962 die beiden DEFA-Filme uraufgeführt? Ja, natürlich gegenüber im „Babylon.

In diesen unruhigen Zeiten Anfang der dreißiger Jahre passierte viel auf eini­gen deutschen Bühnen. Mehr aber noch auf den Straßen. Auch auf den Straßen rund um den Bülowplatz in Berlin. Nicht einmal drei Wochen nach Eröffnung des „Babylon" führten am 1.Mai 1929 die vom Polizeipräsidenten verbotenen Demon­strationen zum berüchtigten Blutmai und über fünfzig Toten. Allerdings war das Zentrum der Ereignisse nicht der Bülowplatz, sondern vielmehr der „rote Wed­ding" und Neukölln. Am 14. Januar 1930 wurde in seinem möblierten Mansarden-Zimmer in der gar nicht weit entfernten Großen Frankfurter Straße 62 der natio­nalsozialistische Student Horst Wessel erschossen. Ermordet von Kommunisten, Mitgliedern deszu der Zeit verbotenen Rotfrontkämpferbundes, die an diesem Tag von ihrem „Sturmlokal" in der Dragonerstraße aus - möglicherweise am „Babylon"

 

vorbei - in die Große Frankfurter marschierten, um Wessel eine „proletarische Abreibung" zu verpassen. Vielleicht waren die Mitglieder des RFB mitunter auch Zuschauer im „Babylon". Oder auch „der arme Epstein", der in die Große Frankfur­ter mitgezogen war und dort bei der Aktion lediglich „Schmiere" gestanden hat Dafür wurde er 1935 im zweiten Prozeß um den Horst Wessel-Mord zum Tode ver­urteilt. Sally Epstein wohnte auch in der unmittelbaren Nähe des Kinos, in der Dragonerstraße. Im Jahre 1993 setzte ihm Heinz Knobloch mit seinem Buch „Der arme Epstein" ein verdientes, schönes Denkmal...

Direkt Ort eines Verbrechens wurde das Kino dann jedoch am 9.August 1931. An diesem heißen Sommer-Sonntag war die Bevölkerung Preußens zu einem Volksentscheid über die Auflösung des Landtages aufgerufen. Das „Berliner Tage­blatt" berichtete: Den ganzen Sonntag über hatte es auf dem Bülowplatz, vor dem Karl-Liebknecht-Haus, Ansammlungen gegeben. Immer wieder bildeten sich Gruppen, die über die politische Lage debattierten und gegen die Polizei eine dro­hende Haltung einnahmen. Zu ernsten Zwischenfällen aber kam es bis zum Abend nicht. Es genügte der Gummiknüppel, um die Demonstranten ausein-anderzubringen, Bei Einbruch der Dunkelheit, gegen 8 Uhr, machte der Polizei­hauptmann Anlauf, in dessen Revier der Bülowplatz liegt, in Begleitung des Poli­zeihauptmanns Lenk und des Polizeioberwachtmeisters Willig einen Rekognos-zierungsgang über den Bülowplatz, um eventuell nötige weitere polizeiliche Anordnungen treffen zu können. Als die beiden Offiziere an dem Lichtspielthea­ter „Babylon" vorbeikamen, das in dem Häuserblock liegt, in dem sich auch das Karl-Liebknecht-Haus befindet, fiel aus der Ansammlung vor dem Lichtspielthe­ater plötzlich ein Schuss. Hauptmann Anlauf brach tödlich getroffen zusammen. Hauptmann Lenk wollte seine Pistole ziehen, um sich zu verteidigen, aber da fie­len weitere Schüsse und auch er sank, von einem Kopfschuss tödlich getroffen, zu Boden. Der Oberwachtmeister Willig, der einige Meter entfernt stand, zog nunmehr seine Pistole, um die Täter, die die beiden Offiziere erschossen hatten, festzunehmen. Aber es nützte ihm nichts - ehe er einige Schritte machen konn­te, hatten die Schützen auch ihn durch einen Bauchschuss niedergestreckt.

Dieser Feuerüberfall der Kommunisten hatte sich in wenigen Sekunden abgespielt Eine größere Schupo-Abteilung drang nunmehr sofort gegen das Lichtspieltheater vor. Die vor dem Hause Stehenden flüchteten oder zogen sich in den Toreingang des Kinos zurück Das Haus wurde sofort abgesperrt Durchsuchungen wurden vorgenommen, doch gelang es nicht, einen der Schützen festzunehmen. Es scheint als sicher, daß das Attentat auf die Polizeioffiziere planmäßig vorbereitet worden ist Die Täter haben sich auch genau über die Örtlichkeit orientiert, und sind wahr­scheinlich, während die Polizei anrückte, über den Hinterhof entkommen.

 

 

Mehrere Bereitschaften der Schupo wurden nun mit Karabinern auf dem Bülowplatz eingesetzt Die Beamten schwärmten mit dem Ruf „Straße frei, es wird geschossen" aus. Schnell waren der Bülowplatz und die umliegenden Straßen von den Ansammlungen befreit13

Es fand eine Durchsuchung des Karl-Liebknecht-Hauses statt Das Gebäude wurde geräumt und vorübergehend geschlossen, die KPD-Zeitung „Die Rote Fahne" für 14 Tage verboten, der Bülowplatz mit seinen Seitenstraßen abgesperrt

  • wogegen sehr bald die Geschäftsleute - auch der Geschäftsführer des „Babylon"?
  • protestierten.

Am 17.August wurden die getöteten Polizisten beerdigt An der Trauerfeier, die mit Händels Largo begann und mit dem Lied vom toten Kameraden endete, nah­men der Reichsinnenminister Josef Wirth sowie der sozialdemokratische preußi­sche Innenminister Carl Severing teil. Severing hielt auch die Trauerrede. In seiner kurzen Rede sprach der Sozialdemokrat eigenartigerweise immer wieder von den „Volksgenossen": Ungezählte Deutsche sind in den letzten Jahren im Osten und Westen des Reiches im Kampfe für die deutsche Kultur gefallen. Aber viel größer ist die Zahl derer, die von eigenen Volksgenossen getötet wurden. Fremde Völker hätten hier nicht grausamer wüten können, als es Volksgenossen gegen Volksge­nossen taten...I4

Der Trauerzug bewegte sich auch über den Bülowplatz, wo der Hauptmann der Schutzpolizei Paul Anlauf - von seinen roten Gegnern „Schweinebacke" genannt

  • , der seit 1926 das 7.Polizeirevier in der Hankestraße (heute: Rosa-Luxemburg-Straße zwischen Weydinger und Tor- Straße, wo die U-Bahntrasse samt Bahnhof verläuft) leitete, seine Dienstwohnung hatte. Vor dem Haus hielt der Trauerzug eine Minute unter Trommelwirbel.

Polizistenmorde galten damals fast als Alltäglichkeit Am 1.August war in der Frankfurter Allee der Polizei-Hauptwachtmeister Fiebig lebensgefáhrlich verletzt worden. Am 30.Juni wurde der Polizei-Oberwachtmeister Emil Kuhfeld in der Frank­furter Allee niedergeschossen. Am 29.Mai erfuhr am Senefelder Platz der Polizei-Hauptwachtmeister Zänkert dasselbe Schicksal. Die Ermittlungen im Fall Anlauf/Lenk liefen noch einige Zeit ins Leere. Schon kurz nach der Tat hatte man allerdings meh­rere Verdächtige: Verdächtig ist ferner ein Kommunist, der kurz nach der Mordtat, in einer Wassertonne gegenüber dem Babylon-Kino versteckt, von Polizeibeamten auf­gefunden worden war. Er war im Besitz eines Revolvers, bestreitet aber hartnäckig, an der Erschießung der beiden Offiziere beteiligt gewesen zu sein.I5

 

Ja, wer war der Mann in der Wassertonne vor dem „Babylon"? Das „Berliner Tageblatt" schrieb, daß nach Zeugenaussagen als Täter einige junge Burschen in Fragers kämen. Ein gewisser Erich Mielke war 1931 23 Jahre alt.. Wie sich später dann heraus stellte, war der Mann in der Wassertonne der 26-jährige Kutscher Max Thunert. Mielke, Mitglied der Gruppe Wedding einer KPD-Selbstschutzorganisation, war einer der beiden Pistolenschützen...17

Zwei Tage nach dem Attentat kommentierte die Zeitung die Ereignisse und unterzog dabei das gesamte Viertel einer sehr kritischen Untersuchung. Die Über­schrift des Beitrags lautete bezeichnend: „Bülowplatz 1931. Der Unruhe-Bezirk Berlins.": Der Bülowplatz ist ein trauriges Exempel dafür, daß sich eine Gegend nicht verändert, auch wenn man sie völlig unbebaut und ihr ein ganz neues Kolo­rit gibt Es bleibt etwas von dem zurück, was früher war, selbst wenn äußerlich nichts an dies Früher erinnert. Auf dem heißen Pflaster des Bülowplatzes haben neue Steine keine Abkühlung gebracht

Schon seit Jahr und Tag kommen immer wieder Meldungen von diesem Platz, über Unruhen, Zusammenrottungen, Demonstrationen, Schiessereien. Meist ver­hältnismäßig harmlos, manchmal gefährlicher, bis jetzt zu dem furchtbaren Mord an den beiden Polizeioffizieren.

Der Bülowplatz hat noch nie einen besonders guten Ruf gehabt Hier war einst das berüchtigte Scheunenviertel, eine der dunkelsten Gegenden Berlins. In den Baracken, die rund um den Platz lagen, fand das Verbrechertum Schlupfwinkel, und keine Razzia war imstande, diesem Treiben ein Ende zu machen. Höhepunkt der traurigen Berühmtheit dieser Gegend waren die Inflationsjahre. Dann wurde es besser Und als vor einigen Jahren der große Umbau am Bülowplatz durchge­führt wurde, hofften die Anwohner, daß nun die Zeit, da ihre Gegend verrufen, unter den Berliner Stadtteilen war, vorbei sein würde.

Es sah anfangs so aus. Statt der Bretterbuden standen jetzt steinerne Wohn- und Geschäftshäuser da. Es war eifrig und gut gebaut worden und nur die Neben­straßen stachen gegen dieses frische neue Gesicht allzu dunkel ab. Aber mit den neuen Häusern kam statt der Unruhe des Verbrecherwesens die Unruhe der Poli­tik über den Platz. Das Karl-Liebknecht-Haus, das neue Parteihaus der Kommu­nisten, wurde zum Zentrum einer Aktivität, die, anfangs noch in geordneten Bah­nen, bald masslos in ihren Mitteln wurde Demonstrationen waren verboten - am Liebknecht-Haus auf dem Bülowplatz begannen sie immer wieder. Ansammlun­gen waren untersagt - am Bülowplatz vor dem Liebknecht-Haus bildeten sie sich trotzdem! An Tagen der Unruhe zogen die Kommunisten eben zu ihrem Parteilo­kal, und der Krieg mit der Polizei, der jetzt so furchtbare Opfer forderte, flammte immer wieder auf. Besetzung des Karl-Liebknecht-Hauses, Haussuchung, Zerstreuung der Ansammlungen - es war eine unheilvolle Zeit für den Platz, der nicht zur Ruhe kommen konnte.

Seit gestern ist, er zur Ruhe befohlen worden. Die traurigen Vorgänge des Sonn­tagabend haben zu den schärfsten Befriedungsmassnahmen führen müssen. Die neue Bannmeile soll Ruhe bringen. Für immer?18

Von wegen für immer. Die Vorgänge auf dem Bülowplatz waren, sind fast ver­gessen. Für die Historiker sind sie nicht viel mehr als ein paar der vielen Mosaicsteinchen, die mit dazu beitrugen, daß die Weimarer Republik knapp anderthalb Jahre später zu Grabe getragen wurde. Die Erste Deutsche Republik wurde auch mit am Bülowplatz „sturmreif geschossen"..

Die Schüsse vom Bülowplatz wären wohl total vergessen, wenn an sie nicht über sechzig Jahre später, nach der deutschen Wende von 1989 in einem eigenar­tigen Prozeß gegen einen der Schützen erinnert worden wäre. Der Angeklagte war Erich Mielke, jahrzehntelang Minister für Staatssicherheit der DDR. Für viele Men­schen aus der DDR war es nicht leicht zu verstehen, daß einer der meistgefürch-teten und wohl auch meistgehassten Politiker der DDR nicht für Verbrechen vor Gericht gestellt wurde, die er als Stasi-Minister begangen hatte, sondern für die Schüsse auf die Polizeibeamten vor dem Kino „Babylon" im Jahre 1931. Eigentlich war es wirklich nur schwer zu verstehen. Was hatte der Angeklagte in der Zwischenzeit alles erlebt? Den Spanienkrieg, den Zweiten Weltkrieg, den Aufbau der DDR und den Aufbau der Staatssicherheit und schließlich den Zusammen­bruch „seines" Staates. Ob er sich manchmal in den vierziger, fünfziger Jahren an die Schüsse von 1931 erinnert haben mag, als er an einer offiziellen DEFA-Pre-miere im „Babylon" teilnahm? Ging ein Staatssicherheits-Minister eigentlich auch in ganz normale, öffentliche Kinos? Am Anfang, als er noch nicht Minister war, vermutlich schon. Später ließ es sich wohl die Filme in die Normannenstraße oder nach Wandlitz kommen... Wolfgang Harkenthal, nach dem Krieg Mitarbeiter von Sovexportfilm, später Pressechef, dann auch Direktor des Progress Filmvertrieb, war 1948 und später bei den ersten Jahren des „Babylon" nach dem Krieg mit dabei und berichtet, daß bei den vielen Premieren, die das Kino damals erlebte, vor allem auch von Seiten der DDR-Funktionäre großes Interesse an Eintrittskarten bei Filmpremieren bestand: Dabei herrschte immer Hochbetrieb. Gegen Vorlage der Eintrittskarten erhielten die Gäste an den Kassen ihre Platzkarten. Es gab Leute, die sich gleich nach vorn drängelten, rücksichtslos waren. Andere schickten ihre Fahrer vor, um Karten abzuholen und ganz Schlaue - oder „hochgestellte" Per­sönlichkeiten holten die Karten schon morgens in der Milastraße19 oder in der damaligen Jägerstraße ab. Einer ist mir in Erinnerung geblieben: Hans Jendretzki,

hoher Gewerkschaftsboß und Chef der Berliner Parteiorganisation der SED. Er stellte sich wie alle anderen artig an, unterhielt sich mit den Wartenden. Fast alle Prominenten Ostberliner Politiker kamen mal ins „Babylon": Der populäre Wilhelm Pieck, auf den die Leute einfach zugingen und mit ihm redeten, der bescheidene Paul Wandel, der ewig knurrige und verbiesterte Walter Ulbricht und viele, viele andere. Manchmal blieben sie nach der Vorführung im Büro des Direktors oder einfach im Foyer und tauschten Gedanken aus.20 Doch das war viel später. Damals, in den frühen fünfziger Jahren wird das eine oder andere Mal auch Genosse Mielke ins „Babylon" gekommen sein. Ohne Angst, denn schließlich hatte man die Macht und mußte nicht irgendeine Racheaktion oder den Haftbefehl eines Richters fürchten...

Nach dem August 1931 waren Demonstrationen und Polizeiaufgebote am Bülowplatz weiterhin Alltag. Noch am 22. Januar 1933, wenige Tage vor der Machtergreifung durch die Nazis, veranstalteten die Faschisten unter starkem Polizeischutz eine große Parade vor SA-"Stabschef" Röhm. 118 Festnahmen (vor allem von Gegendemonstranten) erfolgten. Der Bülowplatz mit dem Karl-Lieb­knecht-Haus und dem Grab von Horst Wessel auf dem StNikolai-Friedhof in der nahen Umgebung war für die Nazis zu einem symbolischen Ort geworden. Im Januar 1933 waren Hitler und sein „Gauleiter" Josef Goebbels auf dem St.Nikolai-Friedhof bei der Einweihung eines Grabsteins für Wessel dabei. Möglicherweise sind sie demonstrativ am „Babylon" und am Karl-Liebknecht-Haus vorbei mar­schiert Und am 25. Januar 1933 folgten trotz klirrender Kälte rund 130 000 Ber­liner dem Aufruf der KPD-Führung zu einer antifaschistischen Demonstration. Sie zogen an Ernst Thälmann, John Schehr, Wilhelm Florin, Walter Ulbricht vorbei... Einen Monat später schlossen die Behörden das Karl-Liebknecht-Haus.

Berliner Adressbuch des Jahres 1938: Die Weydingerstraße heißt jetzt Horst-Wessel-Straße, schon vor einiger Zeit war aus dem Bülowplatz der Horst-Wessel-Platz geworden, die Volksbühne hieß jetzt „Berliner Theater am Horst-Wessel-Platz". Was hatten die Nazis gegen den Kaufmann Johann Heinrich Weydinger (1773-1837)? Vermutlich wenig oder eigentlich gar nichts. Seit 1930 hatten sie aber das, was sie haben wollten und stellten es gebührend heraus: sie hatten einen Märtyrer. Und seit 1933 waren sie nun auch noch an der Macht. Und auch das sollte gezeigt, sollte demonstriert werden. Vor allem hier am Bülowplatz. In der Weydingerstraße 14 und 16, ursprünglich als Bürogebäude gebaut, stand das im Februar 1933 geschlossene Karl-Liebknecht-Haus. Hier befand sich in den Jahren 1926 bis 1933 das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands. Straßenumbennenungen waren und sind nicht selten Demonstrationsakte wie

 

 

auch Akte der Demütigung. Da ja nun fast alles in der Gegend nach ihrem Idol benannt worden war, hat es möglicherweise vielleicht auch Überlegungen gege­ben, das Kino umzubenennen? Also auch noch „Horst-Wessel-Lichtspiele", „Horst-Wessel-Palast" oder „Lichtspieltheater am Horst-Wessel-Plate"? Vor den größten Lächerlichkeiten schienen sie dann doch zurückzuschrecken. Das „Babylon" behielt seinen Namen. Der Platz und die Straßen mußten sich ändern, das Kino blieb. Die meisten anderen Berliner Kinos änderten im Laufe der Jahrzehnte ihre Namen. Aus den U.T.-Lichtspielen wurden Ufa-Paläste, aus dem legendären Mozartsaal wurde die Neue Scala und später das Metropol. Das „Babylon" bekam 1975 sogar einen Namensvetter; hinter der Mauer nannte sich das ehemalige Kreuzberger Kino Helo ebenfalls „Babylon". Doch das ursprüngliche, alte Kino blieb über all die Jahrzehn­te hinweg fast unberührt

Aus den Jahren zwischen 1933 und 1945 bewahrt das Kino allerdings auch seine meisten Geheimnisse. Schon vor 1933 sollen hier kulturelle Veranstaltungen der Jüdischen Gemeinde stattgefunden haben. Das jüdische Kabarett „Kaftan" soll hier nach seiner langen Odyssee durch Berlin 1933 eine seiner letzten Vorstellun­gen gegeben haben und damit an seinen Ausgangspunkt, das Scheunenviertel zurückgekehrt sein. Möglich wäre das durchaus, waren doch die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße, viele kleinere Synagogen und jüdische Institutionen nicht weit, jüdisches Leben in Berlin fand vor "33 und auch noch danach im Umfeld des Kinos statt In den Jahren 1933/34 soll im Kino der Filmvorführer Rudolf Lunau eine illegale Widerstandsgruppe der KPD organisiert haben. In der DDR wurde in Erinnerung an ihn eine Gedenktafel im Foyer angebracht, die sogar die Wende von 1989 und die spätere Renovierung des Kinos überstanden hat und heute noch dort zu lesen ist Doch niemand weiß näheres über Rudolf Lunau. Die Berliner Adressbücher jener Zeit kennen keinen Rudolf Lunau. Gerüchte besagen auch, daß im Kino illegale Flugblätter für die KPD gedruckt worden seien. Unter einer Treppe habe sich ein geheimes antifaschistisches Waffenlager befunden.21 Hans-Rainer Sandvoß von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand fand das Geburtsdatum von Lunau heraus - 27.Juni 19O6 - und präzisierte die Aktivitäten des Filmvorführers, der sich im früheren TechnicRaum mit Regimegegnern traf, Oppositionelle an diesem Ort verbarg und 1934 zu vier Jahren Zuchthaus verur­teilt wurde. 1943 zu einer Strafeinheit eingezogen, blieb er seitdem verschollen.22

Es wäre durchaus vorstellbar: am Nachmittag, am Abend geht Rudolf Lunau brav seiner Arbeit nach, legt Kopien von den Filmen in seine großen Vorführma­schinen ein, die damals in Deutschland so gezeigt wurden. Vielleicht Reinhold Schünzels „Viktor und Viktoria", Karl Hartls Film „Gold" oder auch Georg Jacobys

„Csardasfürstin" - vielleicht aber auch Hans Steinhoffs „Hitlerjunge Quex". Wenn dieser „Film vom Opfergeist der deutschen Jugend" - wie sein Untertitel im pom­pös-verblasenen Nazijargon lautete - in einem Berliner Kino gezeigt werden mußte, dann nach Nazi-Vorstellungen ganz gewiß hier, wenige Meter von Horst Wessels Grab entfernt Seine Uraufführung hatte er natürlich im „Ufa-Palast am Zoo" erlebt - in Anwesenheit des vor acht Monaten zum Reichskanzler ernannten Adolf Hitler und seines Propagandaministers Joseph Goebbels. Dann aber kam „Hitlerjunge Quex" in die Bezirke. Gewiß wurde der Film auch im „Babylon" gezeigt, erklang in unmittelbarer Nähe des Karl-Liebknecht-Hauses die eingängi­ge inoffizielle Hymne der Hitlerjugend „Unsre Fahne flattert uns voran"... Am Tage spielte Filmvorführer Rudolf Lunau „Hitlerjunge Quex".. und in der Nacht trafen sich im Kino Menschen, die sich Gedanken machten, was zu tun sei, damit der braune Spuk schnell wieder vorbei sei... Wenn sie gewußt hätten, wie lange das noch dauern wird... Und wenn sie geahnt hätten, daß danach, als in diesem Teil Deutschlands ihre Genossen an die Macht kamen, als eine „antifaschistische Ord­nung" errichtetet worden war, die absolut nichts mehr mit der Naziherrschaft zu tun haben wollte, daß dann zwanzig Jahre später im „Babylon" ein „gänzlich unpolitischer" Film ausgerechnet jenes Regisseurs gespielt wurde, der paar Jahre zuvor „Hitlerjunge Quex" gedreht hatte... Entsetzt waren darüber in der antifa­schistischen DDR offenbar nur wenige. Einer der wenigen war Victor Klemperer, der Romanist. Nicht wegen Steinhoff (wahrscheinlich wußte er gar nicht, daß die­ser Regisseur der Schöpfer von „Hitlerjunge Quex" war), sondern nur über eine besondere Szene, die Versteigerungsszene, die überdeutlich im antisemitischen Geist gestaltet war. Nachdem Klemperer den Film im Februar 1953 im „Babylon" gesehen hatte, vertraute das Mitglied des Zentralvorstandes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und Abgeordneter der DDR-Volkskammer seinem Tagebuch an: Wie konnte man das heute (...) durchgehen lassen?23Wer aber war Rudolf Lunau? Der Phantasie ist breiter Raum gelassen. Doch dann weist ein Zufallsfund die Phantasie in ihre Grenzen. Im Archiv des Kinos befindet sich ein Leserbrief, den im April 199O Hans Lunau, der Bruder, an die Red­aktion der Zeitung „Neues Deutschland" geschickt hat Er schrieb 1990, also kurz nach der Wende an die Zeitung:

Bln.-Buch, den 16.4.1990 Liebe Genossen!

Am Donnerstag, dem 22. März 1990 wurde von Euch im „ND" ein Artikel über das Lichtspielhaus „Babylon" von der Genn. Gudrun Schmidt veröffentlicht. Diese Darlegung hat mir gefallen und wenn sie Interesse daran hat, möchte ich ihr

 

noch einige Dinge über dieses Kino mitteilen, besonders deswegen, weil es wäh­rend der ersten Jahre der Faschisten unser illegales Quartier war.

In den Jahren 1931-1934 war mein Bruder Rudolf (gen. Kulle) Filmvorführer und Hausmeister und außerdem auch noch Heizer. Leiter oder Geschäftsführer war ein älterer jüdischer Mann, der im selben Haus mit Frau und 2 Kindern wohn­te. Das gab uns die Möglichkeit, dieses Kino als illegales Quartier zu benutzen. Es gelang uns auch 2 jüdische Genossen bis Ende 1933 hier unterzubringen. Alle 4 haben wir zwischen Vorhang und Leinwand geschlafen. Der Geschäftsführer konnte mit seiner Familie ausreisen und die beiden jüdischen Genossen (die Namen sind mir bekannt) konnten ebenfalls gerettet werden und ins Ausland entkommen. Einer von den beiden ist nach 1945 aus dem Ausland zurückgekehrt und vor 5 Jahren verstorben. Seine Frau und 2 Söhne wohnen heute noch in Ber­lin. Der Orgelspieler war Hans Horst Siebert und hat nach 1945 die Musik für einen Film von Ludwig Turek geschrieben.

Oben waren die Logen. In einer derselben befand sich eine Tonsteuerung. Diese durfte ich bedienen und erhielt dafür ein Taschengeld von 4 Mark in der Woche. Im Kohlenkellerzugang hinten auf dem Hof hatte mein Bruder einen Abziehapparat versteckt, auf dem wir für den Unterbezirk Mitte der KPD Flug­blätter herstellten.

Von den Filmen, die wir spielten, möchte ich besonders erwähnen, daß der Film „Ein Lied geht um die Welt" mit Joseph Schmidt von uns 14 Tage gespielt wurde. Immer hatten wir ein volles Haus bei diesem Film.

Leider mußten wir 1934 durch Verrat des 2.Filmvorführers das Quartier räu­men. Mein Bruder wurde von Hans Horst Siebert in der Kamera „Unter den Lin­den" untergebracht, er schlief dort in der Garderobe, ich bei einer jüdischen Frau in Köln. Danach kam für meinen Bruder und mich durch Verrat Folter der Gesta­po und jahrelanges Zuchthaus. Anschließend Strafbataillon, wo mein Bruder umgekommen ist, ich konnte aus dem Strafbataillon flüchten und kam 1945 wie­der nach Berlin. Außer den Filmen gab es auch Bühnenschau und Vorstellung von Schauspielern. Dabei war am lustigsten, wenn mein Bruder den Blumenstrauß überreichte. Wir haben uns dann immer amüsiert, weil es immer derselbe aus künstlichen Blumen war.

Gez. Hans Lunau

Also nicht „Hitlerjunge Quex" lief 1933 im „Babylon", sondern Richard Oswalds „Ein Lied geht um die Welt" mit Josef Schmidt und Viktor de Kowa. War es damals noch möglich, daß der Geschäftsführer eines Kinos, ein Jude noch dazu, es ablehnte, einen „nationalsozialistischen Großfilm" zu spielen? Interessant auch Hans Lunaus Angaben über den Organisten Horst Hanns Sieber. Er wurde in den

fünfziger Jahren einigermaßen bekannt durch eine relativ kurze, aber sehr inten­sive Tätigkeit als Komponist für die DEFA. Zwischen 1950 und 1952 komponierte er die Musik zu sieben DEFA-Filmen. Der bekannteste davon ist ganz gewiß Wolf­gang Staudtes „Untertan". Bei dem Film von Ludwig Turek handelt es sich um E.W.Fiedlers „Die letzte Heuer" mit dem ersten DEFA-Direktor Hans Klering in der Hauptrolle. Der Film wurde am 12.April 1951 im „Babylon" uraufgeführt Horst Hanns Sieber kehrt damit an den Ort zurück, wo er schon vor fast zwanzig Jahren als Organist tätig gewesen war. Auch da wieder schloß sich ein Kreis.

Und das Kino „Kamera", Unter den Linden, wo Sieber Rudolf Lunau - genannt Kulle - später untergebracht haben soll, war seinerzeit ein recht berühmtes Berli­ner Filmkunsttheater, in dem in den zwanziger Jahren viele bekannte Filme gespielt wurden. Als in der DDR an der Friedrichstraße 112a das Filmtheater des Staatlichen Filmarchivs der DDR, die „Camera" ihren Spielbetrieb aufnahm, erinnerten sich einige ältere Besucher an dieses legendäre Kino in der Straße Unter den Linden.

Die Prozeßakten zu Rudolf Lunau liegen heute im Bundesarchiv in Berlin-Lich­terfelde. Sie geben detailliert Auskunft über den Mann in den Mühlen der Nazi-Justiz. Die Verhaftung erfolgte am 15.August 1934. Das Reichssicherheitshaupt-amt vermeldete: Am 15.8.1934 sind wegen des gleichen Verdachts (kommunisti­sche Hetzpropaganda zu betreiben, M.H.) weiter festgenommen worden:

(...)

2. Lunau, Rudolf, Vorführer, 25.6.06 geboren, Lichtenrade, Angermünderstra-ße wohnhaft

Die Durchsuchung ihrer Wohnungen hat ganze Stöße kommunistischer Schriften über die Röhm-Revolte und die letzten Ereignisse in Österreich zutage gefördert

Die Festgenommenen sind teils geständig, teils bestreiten sie noch jede ille­gale Betätigung. Die Ermittlungen werden fortgeführt Weitere Festnahmen stehen bevor.24

Fünf Monate später schickte der Generalstaatsanwalt beim Berliner Kammer­gerichtan den Herrn Vorsitzenden des 3.Strafsenats des Kammergerichts die Anklageschrift gegen den Arbeiter Otto Döring und andere. Geheim ! Haftsache!

  1. der Arbeiter Otto Döring
  2. der Kinovorführer Rudolf Lunau aus Berlin N.54, Grenadierstra ße 24, geboren am 27Juni 1906 in Berlin, verheiratet
  3. der Straßenbahnschaffner Alfred Friedrich

 

  1. der Angestellte Paul Schüler
  2. der Bäcker Hans Lunau, aus Köln, Alte Wallgasse 8, geboren am 29.Oktober 1907 in Berlin, ledig

sämtlich auf Grund des Haftbefehls des Amtsgerichts Berlin vom 6.September 1934 im Untersuchungsgefängnis Moabit in Untersuchungshaft - werden ange­klagt, in Berlin und Köln bis August 1934 das hochverräterische Unternehmen, die Verfassung des Reiches mit Gewalt zu ändern, vorbereitet zu haben, und zwar, indem die Tat auf Beeinflussung der Massen durch Verbreitung von Schriften gerichtet war.

Verbrechen strafbar nach §§80 Abs.2, 83 Abs. 2 und 3 Ziffer 3, 84, 86, 86a, 87 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 24.April 1934.

Ermittlungsergebnis:  Durch einen abgefangenen Brief, der von dem Angeschul­digten Hans Lunau aus Köln an den Mitangeschuldigten Otto Döring gerichtet war, gelang es der Staatspolizei Berlin, Mitte August dieses Jahres die Ange­schuldigten kommunistischer Umtriebe zu überführen.

Über ihre Betätigung im einzelnen haben die Ermittlungen folgendes ergeben:

2. Rudolf Lunau

will einer politischen Partei als eingeschriebenes Mitglied nicht angehört haben, gibt jedoch zu, noch heute Kommunist zu sein.

Der Angeschuldigte ist geständig, bis zu seiner Festnahme in größeren Mengen illegale kommunistische Druckschriften, von denen er wöchentlich von dem Mit-angeschuldigten Döring ca. 15 Exemplare erhielt, verbreitet zu haben.

Der Angeschuldigte hat bei seiner richterlichen Vernehmung sein polizeiliches Geständnis aufrechterhalten.

(425

Der Termin der Hauptverhandlung vor dem 4.Strafsenat des Kammergerichts in Berlin, Turmstraße 91 Saal 172 ist auf den 20.November 1934 9 Uhr anberaumt worden.26

Das Urteil ließ nicht lange auf sich warten. Wie vorgesehen tagte der 4.Straf-senat des Kammergerichts in Berlin in seiner Sitzung vom 20.November 1934 unter Vorsitz des Senatspräsidenten Dr.Seeliger und erließ folgendes Urteil:

IM NAMEN DES DEUTSCHEN VOLKES !

In der Strafsache gegen

2) den Kinovorführer Rudolf Lunau aus Berlin N.54, Grenadierstra ße 24, gebo-

ren am 27Juni 1906 in Berlin,

sämtlich zurzeit im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit wegen Vorberei-

tung zum Hochverrat hat der 4.Strafsenat des Kammergerichts in Berlin in der

Sitzung vom 20.November 1934 an welcher teilgenommen haben: Senatsprä-

sident Dr.Seeliger als Vorsitzender (.4

für Recht erkannt:

Wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens werden verur-

teilt die Angeklagten:

Otto Döring und Hans Lunau zu je sechs Jahren Zuchthaus,

Alfred Friedrich zu fünf Jahren Zuchthaus,

Rudolf Lunau zu vier Jahren Zuchthaus,

Paul Schüler zu einem Jahr sechs Monaten Zuchthaus.

Gründe:  (.4

Der Angeklagte Rudolf Lunau hat mit der KPD sympathisiert. Er ist geständig, von Döring fortlaufend illegale Druckschriften in Empfang genommen zu haben, und zwar zweimal Ende Juni 1934 je eine größere Anzahl, am B. oder 9.August 1934 12-15 Stück und am 15.Juni 1934 zwei Stücke.

Da das Verteilen der Druckschriften zu diesem Zeitpunkt schon sehr gefähr­lich war, hat er dies in der Weise durchgeführt, daß er Druckschriften zer­knüllt in Wirtschaften liegen ließ.

(...)

Nach diesem Ergebnis der Hauptverhandlung sind die Angeklagten in dem illegalen Zeitungsapparat der KPD tätig geworden. Die KPD versucht durch ihre Hetzschriften immer wieder, in der Bevölkerung Unruhe und Unzufrie­denheit zu erzeugen, um die revolutionäre Stimmung zur Erreichung ihres Endziels, des bewaffneten Sturzes der bestehenden Staats- und Wirtschafts­ordnung vorzubereiten. Sämtliche Angeklagten haben diese Arbeit durch Empfangnahme und Weitergabe des illegalen Materials unterstützt (...) Die Tätigkeit aller Angeklagten hat daher objektiv hochverräterischen Charakter.

Strafmildernd konnte allein das offene Geständnis der Angeklagten erwogen werden. Erheblich strafverschärfend fiel aber ins Gewicht, daß es alle Ange­klagten gewagt haben, bis zum September 1934 die Umsturzarbeit der KPD zu fördern, zu einem Zeitpunkt also, zu dem ein Angriff auf den gefestigten deutschen Staat eine ganz besonders verwerfliche Tat darstellt. In diesen Erwägungen erschienen nach Maßgabe des Umfangs der Beteiligung der Angeklagten im einzelnen die erkannten Strafen erforderlich.27

 

                                                                                                                                             

 

Am Ende des Urteils dann auch sogleich der genaue Termin der Entlassung: Die 5 Verurteilten sind zur Strafanstalt in Luckau überführt worden und kommen voraussichtlich zur Entlassung:

Rudolf Lunau am 6.9.1938 28

Vier Jahre in jenem berühmt-berüchtigten Zuchthaus in der Niederlausitz, wo zwei Jahrzehnte zuvor schon unter anderem auch Rosa Luxemburg und Karl Lieb­knecht inhaftiert gewesen waren...

Am 13.August 1938, also nicht einmal einen Monat vor Lunaus erwarteten Entlassung aus dem Zuchthaus schickte der Generalstaatsanwalt bei dem Kam­mergericht an den Herrn Reichsminister der Justiz ein Schreiben mit dem Zusatz Der Beschleunigung empfohlen!: Gnadengesuch des Verurteilten Rudolf Lunau um Umwandlung der Zuchthausstrafe in Gefängnisstrafe und Wiederverleihung der Wehrwürdigkeit.29 Die Akte vermerkt, daß der Häftling bereits eine Vorstrafe hatte: in einem Urteil vom 4.Januar 1929 war er zu drei Tagen Gefängnis wegen einfacher Körperverletzung verurteilt worden. Er sei nach wie vor verheiratet, lebe aber von seiner Frau getrennt - eine „schöne, sehr sinnvolle Beurteilung der Lage eines Zuchthausinsassen durch die deutsche Justiz! - und habe ein Kind im Alter von vier Jahren

Das Gnadengesuch wurde folgendermaßen begründet: Seine Betätigung für die illegale KPD sei erfolgte, weil er damals die Überzeugung gehabt habe, daß diese Partei zur Vertretung der Interessen der Arbeiter berufen sei und er ihr nach der Machtübernahme nicht habe untreu werden wollen. Beeinflußt durch die Pro­paganda der KPD habe er nicht daran geglaubt, daß die Nationalsozialisten ihre Versprechungen würden verwirklichen können. Während seiner Haft habe er sich ernsthaft bemüht, sich mit der nationalsozialistischen Idee vertraut zu machen, und sich vollständig umgestellt. Er möchte in Zukunft nicht untätig beiseite ste­hen, sondern sich für die Verwirklichung der nationalsozialistischen Idee einsetzen.30

Die von der Gnadenbehörde gehörten Stellen, also die Zuchthausleitung Lucka charakterisiert den Häftling Lunau: (...) In der hiesigen Anstalt hat Lunau sich sehr gut geführt. Sein Fleiß ist überdurchschnittlich, seine sonstige Haltung durchaus zufriedenstellend. Zwar mußte er einmal mit einem Tage Arrest bestraft werden; diese Bestrafung hatte aber darin seinen Grund, daß Lunau einem Mitgefangenen, der eine Kostschmälerung zu verbüßen hatte, Lebensmittel zugesteckt hatte.

Was der Gefangene in seinem Gesuch schreibt, ist ehrlich und wahr. Es trifft auch zu, daß sich der Gefangene vom Kommunismus völlig gelöst hat. Lunau ist einer der wenigen Gefangenen, die wegen Hochverrat Strafe verbüßen, bei denen eine völlige innere Wandlung festzustellen ist Mehr als andere Gefangene hat Lunau sich mit dem nationalsozialistischen Gedankengut befaßt und dies durch seine ganze Haltung im Strafvollzug bewiesen.

Ich befürworte das Gesuch.31

Auch der 4. Strafsenat des Berliner Kammergerichts, der Lunau vor vier Jahren verurteilte, befürwortet den Gnadenerweis, aber Wehrwürdigkeit dürfe Lunau durch Gnadenerweis nicht erlangen. Genauso argumentiert die Staatspolizeileitstelle Berlin, die Gestapo: Der vorzeitigen Entlassung des Lunau wird von hier aus zugestimmt

Die Umwandlung der Zuchthausstrafe in Gefängnisstrafe und Wiedererlan­gung der Wehrwürdigkeit kann von hier zur Zeit nicht befürwortet werden. Lunau soll erst durch aktive Betätigung den Beweis seiner inneren und äußeren Wand­lung zur heutigen Weltanschauung erbringen.32

Die Gnadenbehörde schließt sich diesem Argument an: Hinzu kommt, daß sich besonders eingefleischte Kommunisten häufig während einer Straftat allgemein gut zu führen pflegen, ohne daß sie sich innerlich umgestellt haben. Einem Gna­denerweis kann m.E erst nähergetreten werden, wenn der Verurteilte auch in der Freiheit durch aktive Betätigung Beweise für seine Umstellung in politischer Hin­sicht erbracht hat Ich halte daher das Gesuch auf jeden Fall für verfrüht.33

Entschieden wird dann ganz oben: Entscheidung des Führers und Reichskanzlers

Der Führer und Reichskanzler hat mit Entschließung vom 30.1.39 - RP 12287/38 - die Vollstreckung des Strafrestes mit Bewährungsfrist bis zum 31. August 1941 ausgesetzt, einem weitergehendem Gnadenerweis hinsichtlich der Wiederverleihung der Wehrwürdigkeit und Umwandlung der Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe jedoch abgelehnt

Berlin, d. 16.2.1939               Der Reichsminister d. Justiz34

Kurz nach Ablauf von Lunaus Bewährungsfrist wird die Justiz noch einmal, das letzte Mal in diesem Fall tätig. Der Fall wird abgeschlossen und zu den Akten gelegt Der Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht schreibt an den Herrn Reichsminister der Justiz, daß die Bewährungsfrist des Verurteilten abgelaufen sei: Der Verurteilte ist nicht wieder bestraft worden. Über seine Führung während der

 

Bewährungsfrist und zu der Frage des Erlasses der Reststrafe hat sich die Gehei­me Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Hamburg wie folgt geäußert:

Der umseitig näher bezeichnete Lunau ist in Hamburg-Altona, General-Litz-mannstra ße 151/1!, wohnhaft. Er ist als Betonarbeiter bei der Fa. Wienecke Et Meyer, Hamburg, Hansastra Fe 77, beschäftigt. Von seinem Arbeitgeber wird er als fleißiger Arbeiter und als ordentlicher Mann geschildert. Lunau ist verheira­tet und hat 2 Kinder - davon 1 uneheliches - im Alter von 6 Jahren und 8 Tagen. Etwas Nachteiliges über ihn konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Gegen den Erlaß der Reststrafe dürften keine Bedenken bestehen.35

Er ist vorzeitig wenige Tage entlassen worden, hat sich in Hamburg niederge­lassen, hat geheiratet, Ende August 1941 als 35-Jähriger noch ein zweites Kind bekommen und als Bauarbeiter gearbeitet.. Er ist also nicht mehr „auffällig" geworden, hat vielleicht sogar seinen Frieden mit den Nazis geschlossen. Rudolf Lunau wurde ein „braver" Deutscher, einer von Millionen... Aber da ist noch etwas, was ihn - außer seiner früheren antifaschistischen Tätigkeit und der Strafe dafür - von den Millionen Deutschen unterscheidet Und das ist wohl auch der Haupt­grund für sein Gnadengesuch wenige Tage vor der ohnehin anstehenden Entlas­sung aus dem Zuchthaus Luckau: er wollte das haben, was die Nazis in ihrer ver­blasenen Sprache „Wehrwürdigkeit" nannten. „Wehrwürdig", das soll natürlich heißen, daß einer würdig ist, Soldat zu werden. Drängelte sich Rudolf Lunau im Jahre 1938 also danach Soldat zu werden und eventuell „für Führer und Vater­land" zu sterben? Eine andere Vermutung drängt sich auf: auch die, die „wehrun­würdig" waren, „durften" oder genauer mußten ihren Kopf hinhalten: Strafgefan­gene, Unwürdige wurden in sogenannten „Strafbataillonen" zusammengefasst Und genau die wurden später im Krieg in die gefährlichsten, aussichtslosesten militärischen Situationen geschickt; das Menschenleben eines „Wehrunwürdigen" war in Nazideutschland natürlich viel weniger wert als das eines „normalen" Sol­daten... Davor wollte Rudolf Lunau wohl bewahrt werden. Der Wunsch war ver­geblich. Rudolf Lunau wurde in ein Strafbataillon eingezogen und dadurch noch ein Opfer des von den Nazis begonnenen Zweiten Weltkrieges.

V.z. H. - das heißt „Vorbereitung zum Hochverrat", ein in der Sprache der Nazis sehr breit gefaßtes Vergehen. Massenweise registrierte übrigens 1934 das Reichs-sicherheitshauptamt in Berlin diese kleinen, manchmal sogar winzigen Aktionen antifaschistischen Widerstands...

Das Eigenartige allerdings: in den Gerichtsakten von Rudolf Lunau taucht nicht ein einziges Mal der Name des Kino „Babylon" auf, genau sowenig das Kino „Kamera" Unter den Linden. Nirgendwo wird die Arbeitsstelle des „Kinovorführers" genannt War er im Sommer 1934 schon nicht mehr als Vorführer tätig? Offen­sichtlich haben er und seine Freunde die antifaschistischen Drucksachen nie im Kino, sondern immer in den umliegenden „Wirtschaften", den Kneipen und Destil­len absichtlich liegen lassen. Lunau und seine Freunde wohnten fast alle in der Grenadierstraße (heute: Almstadtstraße), im Scheunenviertel, ganz in der Nähe des „Babylon". Widerstand im Scheunenviertel - die Aktionen von Rudolf Lunau und Genossen gehören dazu. Auch über die Herkunft der Materialien wird in den Gerichtsakten nichts gesagt, noch gar, daß einiges davon, vielleicht im „Babylon" hergestellt worden ist Hätte die Gestapo das erfahren, wäre Lunau ganz gewiß nicht mit vier Jahren Zuchthaus weg gekommen. Genausowenig steht in den Akten etwas über das Verstecken von Juden hinter der Leinwand des Kinos, von dem Hans Lunau in dem Brief an das „Neue Deutschland" schreibt Haben die Nazis davon nichts erfahren? Auch die von Hans Lunau erwähnte Denunziation durch den 2.Filmvorführer taucht in den Akten nicht auf. Hier löst lediglich ein abgefangener Brief alles aus...

Wie dem auch sei: es ist gut, daß die Tafel an den ehemaligen Filmvorführer Rudolf Lunau im „Babylon" heute noch erinnert Ein deutsches Schicksal, das irgendwo im Dunkel der letzten Kriegsmonate endet. Eine Abschweifung, die eigentlich gar keine ist, gehört sie doch genauso zur Geschichte dieses Kinos mit­ten in Berlin.

 

In einer unmittelbar nach dem Krieg aufgestellten langen Liste „Tote des Ham­burger Widerstandskampfes" ist auch der ehemalige Filmvorführer Rudolf Lunau zu finden:

Lunau, Rudolf 27.6.06 KPD

Haftgrund: V. z. H.

Todestag und -ort: 24.9.44 i. BB verschollen.36

                                                                                                                                                                               

 

Nicht ganz unberührt blieb das Kino vom Zweiten Weltkrieg. Als 1943 auch die Berliner verstärkt Bombenangriffe erlebten und die Volksbühne in deren Folge im November ausbrannte, wurde auch das „Babylon" sowie mehrere Miets­häuser etwas in Mitleidenschaft gezogen. Gleichfalls wurde das ehemalige Karl-Liebknecht-Haus schwer zerstört.

Doch allzu groß müssen die Zerstörungen im Kino selbst nicht gewesen sein. Denn bereits am 24. Mai 1945, knapp zweieinhalb Wochen nach der Befreiung der Stadt, meldete die „Tägliche Rundschau" - die Zeitung der Roten Armee mit dem Untertitel „Tageszeitung für die Bevölkerung Deutschlands" - daß das „Babylon" wieder spiele: Am 23. Mai um 16 Uhr wurde das Lichtspieltheater Babylon, Kai­ser-Wilhelm-Straße 27, im Bezirk Mitte mit einem der neuesten sowjetischen Filme „Die Kinder des Kapitän Grant" eröffnet. Artistische Darbietungen leiteten die Vorstellung ein.37

Einen Tag darauf erschien unter der Überschrift „Grosskino Babylon mit einem russischen Film eröffnet" ein kleiner Beitrag in der Zeitung: „Erst haben wir flei­ßig Fenster vernagelt" - so beginnt ein Leserbrief an uns -, „dann wurde der Schutt aus dem Haus und von den Bürgersteigen weggeschafft, schließlich half uns der Regen, unsere Straße blitzblank machen. Nun blieb nur noch der Wunsch, nachdem wir auch Lebensmittel ,gefaßt' hatten, nämlich: durch Aufheiterung endlich Abwechslung zu bekommen und dadurch Abstand zu jenen Ereignissen zu finden, die die sinnlose Verteidigung Berlins mit ihren für uns so schreckliche Folgen uns aufgebürdet hatte. Wir brauchten nicht lange zu warten, da das Grosskino ,Babylon" am 22. Mai Premiere hatte, und sofort griffen wir diese Gele­genheit beim Schopf."

Ein blitzsauberer Zuschauerraum, eine strahlend weiße Leinwand, als ob hier im Zentrum der Stadt nie Krieg gewesen wäre, waren der erste angenehme Ein­druck, der sich aber schnell erheblich steigerte. Vor dicht besetzten Reihen erfreute uns als Auftakt eine kurze Folge gelungener artistischer Darbietungen, dann trat der Film in sein Recht. Was Jules Verne uns in unserer Jugend vorge­zaubert - sein phantasievoller Roman „Die Kinder des Kapitän Grant"- rauschte in Bildern an uns vorbei, mit russischen Texten zwar, aber in seiner folgerichti­gen, realistischen Handlung mit ihren Steigerungen und Höhepunkten leicht und klar verständlich. Außerdem wurde durch einen einleitenden Vortrag der Inhalt des Films erklärt Das Schicksal des Kapitäns, der Wagemut seines jüngsten zwölfjährigen Jungen, durch den sich letzten Endes alles zum Guten wendet, hatte alle ergriffen und mitgerissen.38

 

Mit - vermutlich fingierten - Leserbriefen arbeitete die am Prenzlauer Berg, in der Göhrener Straße 11 stationierte Redaktion der „Täglichen Rundschau" damals in der Hauptsache - neben Übersetzungen aus sowjetischen Zeitungen. Wenige Tage später beschäftigte sich die Zeitung bereits wieder mit dem Kino. Unter der Überschrift „Bitte, Herr vom ,Babylon" - - I" schrieb ein Rudi Scholz: Im Kino „Babylon", Kaiser-Wilhelm-Straße, wird der russische Film „Soya" aufgeführt

Wir möchten dem Besitzer des „Babylon" vorschlagen, sich einmal selbst die­sen Film anzusehen. Er hat das sicher bis jetzt versäumt, sonst würde er nicht diesen Film von ausschlaggebender politischer und geschichtlicher Bedeutung auf den Reklameschildern als „Spionagefilm" ankündigen.

Es handelt sich in diesem Film um ein junges Mädchen, das aus Liebe zu ihrer Heimat zu den Partisanen ging und bei einem Unternehmen von deutschen Trup­pen gefangengenommen wurde. Da sie bei dem Verhör keine militärischen Geheimnisse verriet, wurde sie bestialisch gefoltert und, als auch das nichts nutzte, auf Befehl des deutschen Kommandanten an den Galgen gehängt.

Der Film schildert eine Begebenheit, die sich bei der Verteidigung von Moskau zugetragen hat Die Tat der jungen Partisanin Soya Kosmodemjanskaja, die nach ihrem Heldentod von der Regierung mit der „Goldenen Medaille des Helden der Sowjetunion" ausgezeichnet wurde.

Jeder deutsche Soldat kennt solche Beispiele vom Heroismus der russischen Freiheitskämpfer und kennt auch die grausamen „Maßnahmen", die von deut­scher Seite gegen sie unternommen wurden. Es ist notwendig, daß sich auch die deutsche Zivilbevölkerung diese Tatsachen klar vor Augen hält Dazu ist gerade dieser Film besonders geeignet Das deutsche Publikum wird ihn auch dann mit großem Interesse sehen, wenn er ohne geschmacklose Sensation, die er gar nicht braucht, angekündigt wird.

Außerdem möchten wir ein paar Worte über die Darbietungen derJazz-Kapel-le Heinz Müller im selben Kino sagen. „Wenn ein junger Mann kommt" und „Der schwarze Panther" sind sicher nette Schlager, aber als Rahmen für diesen Hel­denfilm passen sie bestimmt nicht

Also bitte, Herr vom „Babylon", einen würdigen Rahmen und eine würdige Ankündigung für einen würdigen Film P9

In derselben Nummer der Zeitung war übrigens auch der Befehl Nr.1 der Sowjetischen Militäradministration und über eine halbe Seite ein „Schema der Okkupationszonen Deutschlands" abgedruckt Der sowjetische Kinderfilm nach Jules Verne „Deti kapitana Granta" (Die Kinder des Kapitän Grant) von Wladimir Wainschtok aus dem Jahre 1936 gehörte danach viele Jahre lang zum Repertoire in den Kindervorstellungen ostdeutscher Kinos. Im „Babylon" wurde der Film ver-

 

 

mutlich in der russischen Originalfassung gezeigt, wie so oft in den unmittelba­ren Nachkriegstagen. Erst ein knappes viertel Jahr später, am 10.August 1945 wurde im Marmorhaus am Kurfürstendamm und gleichzeitig im Filmtheater am Friedrichshain der unter Leitung von Wolfgang Staudte synchronisierte „Iwan Grosny" (Iwan der Schreckliche) von Sergej Eisenstein als erster russischer Film in deutscher Fassung aufgeführt. Lew Arnschtams Film „Soja" - wie auch andere sowjetische Filme, die die Bestialität deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg allzu deutlich zeigten, so zum Beispiel Donskois „Raduga" (Regenbogen) oder Michail Romms „Tschelowek No.217" (Der Mensch Nr.217) - wurde ganz im Gegensatz zu dem Kinderfilm sehr selten nur gespielt

In der „Täglichen Rundschau" vom 30. Mai 1945 wurde eine anonyme Mini-Rezension des Films „Wolga-Wolga" von Grigori Alexandrow, der in den Wilmers-dorfer Ludwig-Kirch-Lichtspielen zu sehen war, mit einer kuriosen Anzeige ver­knüpft: In den Ludwig-Kirch-Lichtspielen erregte die Aufführung des Films „Wolga-Wolga" großes Aufsehen. Dieser Film gab Aufschluß über vieles, was uns bis jetzt von der Sowjetunion unbekannt geblieben war. Keine Filmschönheiten, sondern Menschen voller Kraft und Blut, herrliche Naturaufnahmen. Ein glückli­ches Volk auf freier Erde. Auch ohne einkopierte deutsche Texte war die Handlung allgemein verständlich.

Und unmittelbar darunter stand: Das Amt für Volksbildung, Otto Winzer, Berlin (Stadthaus), Parochialstraße 1-3, benötigt dringend einen guten Übersetzer für die Übersetzung russischer Filmtexte.40

Obwohl die westalliierten Truppen längst in Berlin ihre Sektoren bezogen hat­ten, liefen in allen Berliner Kinos vornehmlich sowjetische Filme. So kam bei­spielsweise „Shdi, menja" (Warte auf mich) von Alexander Stolper, eine Liebesge­schichte aus der Kriegszeit, deren Buch Konstantin Simonow geschrieben hatte, am 28.September 1945 gleichzeitig in 31 Berliner Kinos heraus - im „Babylon", aber auch in fünf Neuköllner Kinos, im Odeum, Pankow wie in den Luna-Licht­spielen Berlin-Schöneberg. In russischer Fassung. Wahrscheinlich war man damals auch nicht in der Lage, deutsche Untertitel anzufertigen. Es waren Massenstarts wie sie eigentlich erst in den neunziger Jahren in Berlin wieder vorkamen - da freilich mit amerikanischen Produktionen.

Am 25. Oktober 1945 erfolgte der Berliner Massenstart von Mark Donskois „Detstwo Gorkowo" (Gorkis Kindheit), ein Woche später kam Michail Romms „Lenin w oktjabre" (Lenin im Oktober) in die Kinos. Aber erstaunlicherweise nicht ins „Babylon" - wie fast alle sowjetischen Filme jener Monate nicht Der Grund:

das „Babylon" hatte sich gewandelt, das Kino war zum Theater geworden. Fast alle Berliner Kinos unmittelbar nach Kriegsende wurden multimedial genutzt Ob das

Marmorhaus (wo u.a. Willi Schaeffers häufig mit dem Kabarett der Komiker

gastierte) oder das Ufa-Theater Kurfürstendamm (die spätere Filmbühne Wien), das Pankower „Tivoli" oder das „Babylon": neben Filmvorführungen traten hier

viele verschiedene Ensembles, Kabaretts, Kleinkünstler aller Art auf Nicht nur in der damals unverzichtbaren „Bühnenschau" vor dem Film, sondern auch in abend­füllenden Programmen. Manche Kinos zeigten am Nachmittag Filme, am Abend wurde Theater gespielt Andere - wie eben das „Babylon" - widmeten sich gänz­lich der Bühnenkunst. So trat im Oktober 1945 dort beispielsweise das Ensemble des Schiffbauerdamm-Theaters in einer Wildwestshow „Der Geisterzug" auf. Der Rezensent der „Täglichen Rundschau" schien sich gut unterhalten zu haben: Wer das Gruseln lernen will, der begebe sich ins „Babylon", da wird es ihm gründlich beigebracht. Tote verschwinden dort auf geheimnisvolle Weise, ein vor zwanzig Jahren Verstorbener läuft, irrsinnig lachend, auf einem Bahnsteig herum, Signa­le werden von unsichtbaren Händen geläutet, und ein Zug, mit dem es nicht ganz geheuer ist, denn er fährt nirgends ab und kommt nirgends an, faucht am War­teraum der Station Brandon vorüber. Geschossen wird natürlich auch, denn wir befinden uns ja in Manitoba im Staate Kanada, und was wäre ein Kriminalreißer denn ohne Browning. Wir sind allerdings der Meinung, daß das künstlerische Gesicht Berlins sich auch ohne diesen Zug Wildwestromantik formen ließe.

Gespielt wurde vom Ensemble des Schiffbauerdamm-Theaters mit Tempera­ment und spürbarer Freude am Gruseligen. Um Walter Blum als besagten Trottel, der sich am Schluß des Spiels dann so überraschend verwandelt, gruppierten sich Paula Lepa und Eduard Wesener als verkrachtes Ehepaar, Renate Kopata und Klaus Kaar als zärtliche Hochzeitsleute, Lu Seitz, die die Studie einer beschwip­sten alten Jungfer bot, und eine Reihe anderer mehr oder weniger dunkler Gestal-ten.41

Der Rezensent der „Neuen Zeit" machte sich jedoch auch noch andere Gedan­ken über den zweifelhaften Ehrgeiz eines Kinos, Theater zu werden - angesichts des zerstörten imposanten Theaterbaus gegenüber...

Die verschiedenen Berliner Artisten- und Schauspielerensembles gaben sich in den ersten Monaten nach Kriegsende im „Babylon" fast die Klinke in die Hand. So spielte im Juli an jedem Sonntag früh 11.00 Uhr das Renaissance-Theater unter Leitung von Ernst Legal das Lustspiel „Der Raub der Sabinerinnen" mit Hans-Her­mann Schaufuß und Wolfgang Lukschy in den Hauptrollen.42 Und am Abend roll­te alltäglich ein Variete-Programm ab: „Babylon", das Theater am Bülowplatz bringt vom 16. bis 31.Juli 1945, täglich 17.30 Uhr, ein neues Varieté-Programm.

 

Es wirken u.a.mit: Mac Morland, Carla-Sydow-Ballett, Belcanto-Terzett, Fred Kronström, 3 Eccarius.43 Im August folgte die musikalische Komödie „Meine Schwester und ich" von Ralph Benatzky (ein Gastspiel des Ensembles vom Theater am Nollendorfplatz), ab 1.September dann das Lustspiel „Kinder, Kinder". Ab 10. September gastierte das Hebbel-Theater mit einer Inszenierung von Zuckmayers „Fröhlichem Weinberg" im „Babylon". In der ersten Oktober-Woche waren auf die­ser Bühne - täglich 17.00 Uhr, sonntags auch 15.00 Uhr - Carola Höhn, Wolfgang Lukschy und Erik Ode in Noel Cowards Komödie „Intimitäten" zu sehen.

Darüber hinaus fand in der Zeit ein Gastspiel des Kinder-Theaters „Von Kindern für Kinder statt - Eintritt 1 bis 3 Mark - und die „Künstler des Berliner Rund­funks" traten in einer Sonntags-Matinee auf. Später, in der Vorweihnachtszeit wurde das Weihnachtsmärchen in sechs Bildern „Hans und Liesels Weihnacht­straum" gezeigt Den Prolog sprach Hilde Körber. Später war hier auch ein Kinder-Ballett zu sehen. Und in den Annoncen der Zeitungen war zu lesen: „Das Theater ist geheizt" - was natürlich außerordentlich wichtig war in jenen Tagen vor der ersten Friedens-Weihnacht Genau 45 Jahre später - im Winter des Jahres 1990 sollte es die Heizungsanlage des „Babylon" noch einmal schaffen, daß man von ihr in den Zeitungen Notiz nahm..

Das „Babylon" war ein Theater geworden - mit allem, was dazu gehörte, mit Matineen und Kindervorstellungen, mit Schwänken und großen Bühnenstücken. Sie wurde in der Woche vom 10. bis 16.Oktober 1945 täglich 14.30 Uhr für die Kinder „Max und Moritz" gespielt, sonntags luden u.a. Käte Kühl und Winnie Mar­kus zu ihrer Matinee „Bei mir zu Haus..." ein, eine Woche später konnten die jun­gen Zuschauer nicht den Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge" sehen, sondern eine Dramatisierung des Märchens. Natürlich war Unterhaltung Trumpf, die Zeiten waren danach. Nach zwölf Jahren Nazi-Diktatur und sechs Jahren Krieg wollte man sich amüsieren, fast um jeden Preis. Genauso wichtig wie Milch und Brot war es für die sowjetischen Offiziere der Berliner Bevölkerung Spiele aller Art zu präsentieren. „Der Raub der Sabinerinnen" war da genau das richtige. Oder der Schwank „Hurra - ein Junge!", der allabendlich 17.30 Uhr während der Monate November und Dezember 1945 im „Babylon" über die Bühne ging. In den Haupt­rollen: die beiden populären Komiker Kurt Seifert und Walther Gross. In der zwei­ten Januarhälfte des Jahres 1946 stand dann allabendlich Olga Tschechowa in „Blachfuchs" auf der Bühne, jener Boulevard-Komödie von Ferenc Herzog, die schon acht Jahre zuvor Viktor Tourjansky mit Zarah Leander und Willy Birgel für die Ufa verfilmt hatte. Der Film wurde kurz darauf wieder aufgeführt Das Stück ging voraus. Ende Januar zog Olga Tschechowa ins „Friedenauer Theater" in der

Rheinstraße und Carola Höhn betrat die Szene des „Babylon". Zusammen mit Walther Gross spielte sie den ganzen Februar hindurch das Lustspiel „Madame Vidal hat einen Geliebten". Willi Schaeffers gastierte mit seinem „Kabarett der Komiker" auch im „Babylon" (am 27.Januar 1946), in der Sonntags-Matinee „Fro­her Funk" machten Lotte Werkmeister und Kurt Meisel ihre Späße.

Die zwei Monate, in denen Kurt Seifert und Walther Gross mit „Hurra - ein Junge!" im „Babylon" spielten, müssen ein großer Erfolg gewesen sein. Ein viertel Jahr später, am 1.März 1946 kehrten sie schon wieder in das Haus am U-Bahnhof Schönhauser Tor zurück: mit dem Schwank „Die schwebende Jungfrau". Der ganze Monat war gebucht, doch dann kam es anders...

Als Höhepunkt in der Theaterlaufbahn des Kinos „Babylon" dürfte jedoch eine Aufführungsserie gelten, die vom 1. bis zum 14Januar 1946 lief: im August 1945 war mit einer Inszenierung von Brecht/Weills „Dreigroschenoper" das Hebbel-The-ater in der Stresemann-Straße wieder eröffnet worden. Die Regie lag in den Hän­den des Intendanten Karl Heinz Martin. Hubert von Meyerinck spielte den Mackie Messer, Hans Leibelt den Londoner Polizeichef, Helga Zülch die Spelunken-Jenny, Roma Bahn (die schon bei der „Dreigroschenoper-Uraufführung 1928 im Theater am Schiffbauerdamm dabei gewesen war) die Lucy, Josef Sieber und Hans Herrmann Schaufuß alternierend den Bettlerkönig Peachum, Schaufuß war im „Babylon" fast schon ein alter Bekannter, hatte er doch ein halbes Jahr zuvor dort schon im „Raub der Sabinerinnen" auf der Bühne gestanden. Und dieses umfang­reiche „Dreigroschenoper-Ensemble stand nun nach der erfolgreichen Serie in der Stresemann-Straße einen halben Monat lang allabendlich auf der Bühne eines Kinos am Schönhauser Tor - mit Blick auf ein Theater, in dem sie nicht spielen konnten, das aber viele von ihnen als Schauspieler gut kannten. Auch Karl Heinz Martin hatte hier gearbeitet war vor "33 Direktor der Volksbühne gewesen. Auf dem Besetzungszettel des „Dreigroschenoper-Gastspiels waren bekannte Namen der Ost- wie Westberliner Theatergeschichte. Die Kostüm-Entwürfe waren von Ita Maximowna, Herwart Grosse spielte Filch, einen von Peachums Bettlern, Rudolf Noelte den Konstabler Smith. Und dann wies das Programmheft noch auf einige weitere Vorstellungen im „Babylon" hin: am 6.Januar gab Bernhard Etté mit sei­nem modernen Schau- und Tanzorchester und seinen Solisten ein einmaliges Gastspiel, eine Woche später standen Rudi Schuricke, Henry Lorenzen und Werner Neumann mit seinen Solisten im Programm „Lachender Funk" auf der Bühne des „Babylon". Und am 20. Januar spielten dort die „Berliner Funklieblinge" Aribert Wäscher, Willi Rose, Fredy Sieg und Alfred Jack mit seinen Solisten... Fast zweiein­halb Jahre später, im Juni 1948 - da hatte das „Babylon" wieder zu seiner eigent-

 

                                                                                                                                             

 

lichen Bestimmung als Kino zurückgefunden - wurde G.W.Pabsts Film nach Brecht/Weills Stück hier wiederaufgeführt.

Mag sein, daß in jenen Tagen, im Winter des Jahres 1946 nicht wenige, Zuschauer etwas verwirrt waren. Im vertrauten Kino an der Ecke traten plötzlich Schauspieler aus Fleisch und Blut auf! Einen Journalisten der „Täglichen Rund­schau" regte dies zu einer grundsätzlichen Betrachtung über „Theater im Kino" an: Als ich kürzlich in meinem Stammkino Karten für einen sehr aktuellen Großfilm erstehen wollte, erklärte mir die Kassiererin mit einem fühlbaren Ton der Ent­schuldigung: „Heute abend spielen wir aber nur Theater!" Nur Theater? Ich für meine Person verstand diesen zögernden Vorbehalt nicht; war es mir doch, als böte mir jemand Kuchen statt Brot an, und ich forderte schnell zwei Plätze ganz vorn, mußte mich aber mit der 16.Reihe begnügen. Andere Theaterfreunde waren mir da schon zuvorgekommen.44

Das „Babylon" war zum MehrzweccTheater geworden - und degradierte mit­unter sogar die repräsentativen Lichtspiel-Paläste des Westens zu Nachspielkinos. In jenen Nachkriegszeiten, wo in Berlin nahezu die gesamte Kultur von der Roten Armee bestimmt wurde, konnte das Kino manchmal sogar im imaginären Konkur­renzkampf mit den Kurfürstendamm-Häusern die Nase vorn haben. Mit dem sowjetischen Film „Die Kinder des Kapitän Grant" war das Kino in Berlin-Mitte nach dem Krieg wieder eröffnet worden. Wochen später spielte das Marmorhaus am Kudamm den Film nach. Genauso den historischen Abenteuerfilm „Der unsterbliche Kaschtscher Das legendäre Marmorhaus, wo einst „Das Cabinet des Dr.Caligari" und viele andere Filme uraufgeführt wurden, spielte für kurze Zeit Filme nach, die zuvor im „Babylon" gestartet worden waren.

Andererseits ist es erstaunlich, daß Sojusintorgkino, die sowjetische Filmhan­delsfirma - Vorläufer von Sovexportfilm - die für die Programme mehrerer Berli­ner Kinos direkt verantwortlich war, in einigen ihrer Kinos gar keine Filme spiel­ten, sondern andere Aufführungen organisierten. Das war nicht nur im „Babylon" so. Auch der große, über 1800 Zuschauer fassende Mercedes-Palast im Wedding - ehemals Ufa-Palast - war ein „Sojusintorgkino". Auch dort wurden häufig gar keine sowjetischen Filme gezeigt Beispielweise im Dezember 1945: da spielten 13.30 Uhr Schauspieler das Kindermärchen „Aschenbrödel", 15.30 Uhr gab es eine Kinovorstellung und 18.00 Uhr lief das große Varieté-Programm. Das Kino-Pro­gramm wurde mitunter gar nicht besonders hervorgehoben. Ganz selten gaben die Annoncen in den Zeitungen Auskunft, daß in diesem, von der Sowjetischen Besatzungsmacht betriebenen Kino unbeanstandet der alte deutsche Heimatfilm

 

„Julika" lief. In den Hauptrollen: Paula Wessely und Attila Hörbiger. Sagte niemand den russischen Kulturfunktionären, daß diesselben beiden Schauspieler auch die Hauptrollen in „Heimkehr" gespielt hatten, einem der gemeinsten faschistischen Hetzfilme - der nur vier Jahre zuvor vielleicht auch im Ufa-Kino Mercedes-Palast gezeigt worden war? Hatten sie nichts gegen verlogenen Heimatfilmkitsch oder hatten sie damals im Winter des Jahres 1945 ganz andere Probleme als aufzupas­sen, was ehrgeizige Schauspielerinnen in der Nazizeit noch so alles gespielt hat­ten...

Möglicherweise hätte das Theater „Babylon" noch eine vielversprechende Kar­riere vor sich gehabt Es wäre vorstellbar, daß auch die verantwortlichen sowjeti­schen Kulturfunktionäre die alte Idee einer engen Verbindung zwischen Volks­bühne und Kino verfolgt haben. Möglicherweise waren die Gastspiele des Hebbel-Theaters mit Zuckmayers „Fröhlichem Weinberg" und der „Dreigroschenoper" nur erste Versuche in dieser Richtung. Noch war die große Bühne gegenüber nicht bespielbar. Das „Babylon" als Ausweichquartier? Am 29. Mai 1946 - eine Woche nach Lizenzerteilung und damit Gründung der Deutschen Film A.G., der DEFA ­erteilte der sowjetische Kulturoffizier Sergej Tulpanow dem Intendanten des Heb-bel-Theaters Karl Heinz Martin die Lizenz für die „Volksbühne des Hebbel-Theaters im Sowjetischen Sektor Berlins" - wie es offiziell hieß. Bis zur Wiederherstellung des alten Volksbühnen-Hauses am Karl-Liebknecht-Platz (wie dieser Platz kurz­zeitig auch genannt wurde) würde Karl Heinz Martins zweite Bühne im Prater an der Kastanienallee im Bezirk Prenzlauer Berg spielen. Bei der Eröffnung dieses Theaters am 29.Mai war Dr.Werner, Berlins erster Oberbürgermeister nach dem Krieg, der Intendant, aber auch die Schriftsteller Willi Bredel, Erich Weinert und Friedrich Wolf zugegen. Pfarrer Kleinschmidt stellte den „Arbeitersänger" Ernst Busch vor, der einige seiner bekanntesten Lieder sang.45 Gespielt wurde im Prater die 50.Aufführung der Hebbel-Theater-Inszenierung von Friedrich Wolfs „Profes­sor Mamlock" mit Walter Franck in der Titelrolle.

Es hatte eine gewisse Logik. Karl Heinz Martin war vor 1933 zeitweilig Inten­dant der Volksbühne gewesen, der Prater stand auch in einer Beziehung zu die­sem Theater. Aber warum ging man nicht ins „Babylon", warum spielte man nicht dort den „Professor Mamlock"? Ein unglücklicher Zufall beendete vermutlich all diese Überlegungen. Die Zeitungen haben ihn nicht vermeldet. Unglücke, Nieder­lagen meldeten Zeitungen damals nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Und so ist nicht genau zu erfahren, was sich am 18.März 1946 im „Babylon" ereignet hat Die „Berliner Zeitung" gab einen Tag später nur bekannt, daß das Theater wegen Bauarbeiten vorübergehend geschlossen sei. Bereits gekaufte Eintrittskar-

 

ten werden täglich von 10 bis 14.00 Uhr an der Tageskasse wieder eingelöst.46 War es die Heizungsanlage, waren es Kriegseinwirkungen? Kurt Seifert und Wal­ter Gross mußten ihr Gastspiel jedenfalls abbrechen. „Die schwebende Jungfrau" war unsanft auf dem Boden aufgeschlagen. Die angekündigten „Bau'arbeiten" brauchten ihre Zeit, von wegen „vorübergehend". Über zwei Jahre dauerte dieses „Vorübergehend". Gewissermaßen über Nacht war die kurze, aber vielversprechen­de Karriere des Theaters „Babylon" damit beendet

Über anderthalb Jahr später meldete dann die „Berliner Zeitung":

Das erneuerte „Babylon"

Ein sowjetisches Premierenkino

Die bauliche Erneuerung des Großkinos „Babylon" am Karl-Liebknecht-Platz wird jetzt von der Sovexportfilm-A.G. abgeschlossen. Das repräsentative Licht­spielhaus ist nach den Plänen des Berliner Architekten Hans Rey in mehr als ein­jähriger Bauzeit erstanden; von dem alten Kino waren nur die Umfassungsmau­ern stehengeblieben. Das Haus wird Uraufführungstheater der sowjetischen Filmkunst für Berlin und die gesamte Ostzone. Neben den sowjetischen Spitzen­filmen werden dort auch die Großfilme der DEFA und gegebenenfalls die der bri­tischen, amerikanischen und französischen Produktion gespielt werden.47

Kein Wort darüber, daß hier bis zum März 1946 Theater gespielt wurde, daß das „Babylon" zwischen Mai 1945 und März 1946 zehn bewegte Monate hinter sich hatte. Es war nicht „auferstanden aus Ruinen", und wie hätte in einem Haus „Die Dreigroschenoper" gespielt werden können, wenn nur „die Umfassungsmau­ern" gestanden hätten? Vermutlich war auch diese Zeitungsmeldung mehr dem Geist der Zeit geschuldet, denn der Wahrheit Die Aufbauleistung sollte hervorge­hoben werden - das war wichtiger als die Tatsachen. „Uraufführungstheater der sowjetischen Filmkunst für Berlin und die gesamte Ostzone" - ein Name, der schon damals nicht gerade anziehend auf die Zuschauer gewirkt haben muß. Schon damals erschienen in der Zeitung lange Artikel, die sich mit der Wirksamkeit sowjetischer Filme beim deutschen Publikum auseinandersetzten - ein sicheres Indiz für das schwindende Zuschauerinteresse an Produktionen aus der Sowjetu­nion. Die Spitzenfilme aus britischer, amerikanischer oder französischer Produktion, die „gegebenenfalls" im „Babylon" aufgeführt werden sollten, gab es nicht Es sollte noch Jahre dauern, bis überhaupt ein Film aus diesen Ländern dort gezeigt werden sollte. Diese Fälle waren noch lange nicht „gegebent". (Ein solcher seltener Ausnahmefall war allerdings Christian-Jaques „Carmen", den 1948 die

 

französische „Internationale Film-Allianz" als Austauschfilm im „Babylon" zeigte.) Und was die sogenannten Großfilme der DEFA anbetrifft: die erste DEFA-Produktion, die im „Babylon" uraufgeführt wurde, war Arthur Maria Rabenalts Komödie „Chemie und Liebe" - ein „Großfilm"?

Daß es dann aber bis zur wirklichen Wiedereröffnung noch einmal fast ein halbes Jahr dauerte, lag vermutlich an der Jahreszeit In welchem Zustand befand sich die Heizung des Kinos? Einen Monat vorher, Anfang November 1947, ließ die Konkurrenz, das „Marmorhaus" am Kurfürstendamm in Anzeigen vermelden, daß es auf Grund der Stromsparmaßnahmen des Magistrats ab sofort jeden Dienstag in der Woche schließen werde.

Die „zweite" Wiedereröffnung des „Babylon" nach dem Krieg erfolgte dann am 4. Mai 1948. Natürlich war ein Vergleich mit der Eröffnung des Kinos vor fast zwanzig Jahre nicht möglich. Im Gegensatz zu damals: jetzt wurde das Kino wirclich dringend gebraucht Ost-Berlin hatte kein einigermaßen repräsentables Kino. Die ersten DEFA-Filme waren im Ausweichquartier der Deutschen Staatsoper, dem ehemaligen Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstraße, im Filmtheater am Frie­drichshain oder anderen wenig geeigneten Orten (beispielsweise dem Haus der Sowjetischen Kultur im Kastanienwäldchen) uraufgeführt worden. Als der erste DEFA-Film „Die Mörder sind unter uns" am 15. Oktober 1946 in einer Festvorstel­lung nachmittags 14.00 Uhr gestartet wurde (am Abend stand in der Deutschen Staatsoper „Madame Butterfly" auf dem Programm), druckte der Verleih Sovex-portfilm in die Anzeigen der Tageszeitungen, daß das Filmtheater am Friedrichs­hain vom Alexanderplatz aus mit der Straßenbahnlinie 60 zu erreichen sei. Zwei Jahre später wußte man dann offenbar, wo der Friedrichshain lag. Als 1947 zwei „außerordentlich bedeutsame" sowjetische Filme von Sovexport in Ostberlin gestartet wurden - Michail Tschiaurelis Stalin-Opus „Kljatwa" (Der Schwur) und Friedrich Ermlers „Weliki perelom" (Der große Umbruch/Die große Wende) fand man ebenfalls im Ostsektor der Stadt kein würdiges Kino und ging erneut in die Staatsoper. Ein Jahr später war es dann auch nicht mehr unbedingt nötig, daß die ehemaligen Kinos als Spielstätten für Theaterensembles dienen mußten. Ost-Ber­lin brauchte dringend ein Premieren-Kino und richtete dafür das „Babylon" her.

Allerdings ging es den Westalliierten - mit Ausnahme der Briten, die in Char-lottenburg über mehrere Kinos am Kurfürstendamm verfügen konnten - nicht viel anders. Die Amerikaner ließen der Not gehorchend viele ihrer Filme damals in klei­nen Friedenauer Kinos, dem „Cosima", den „Kronen-Lichtspielen" und dem „Rhein-schloß-Theater" anlaufen. Würdige Premierenkinos gab es auch hier nicht. Die

 

„Neue Scala” am Nollendorfplatz - der ehemalige Mozartsaal - wurde in der Art der berühmten New Yorker Radio City Music Hall geführt: ein Varietétheater mit all­monatlich wechselndem Programm, das mit einem - zumeist amerikanischen - Film abgeschlossen wurde. Da konnte man dann im Live-Programm Georg Thomalla erleben - und anschließend Fred Astaire und Rita Hayworth in „You Were Never Lovelier" (Du warst nie berückender). Als aber William Wylers „Großfilm" „The Best Years of Our Lives" (Die besten Jahre unseres Lebens) nach Berlin kam, zeigte der amerikanische Verleih den Film im Juli 1947 den Berliner Kritikern - die auch alle begeisterte Kritiken schrieben. Doch sehen konnten die Berliner Zuschauer den Film erst fast ein Jahr später, im Juni 1948 in der „Neuen Scala" - und daran waren ganz gewiß nicht die komplizierten Synchronisationsarbeiten schuld.

Eröffnet wurde das „Babylon" im Mai 1948 mit dem sowjetischen Film „Sels-kaja utschitelniza" (Erziehung der Gefühle), der Geschichte einer sibirischen Dorf­schullehrerin von Mark Donskoi. Einer der damals bei dieser Wiedereröffnung dabei war, der spätere Pressechef und auch Direktor der Mitte 1950 gegründeten Progress Film-Vertrieb GmbH, Wolfgang Harkenthal, seinerzeit Mitarbeiter von Sovexportfilm, erinnert sich: Mit großer Aufmerksamkeit und Spannung verfolg­ten viele Berliner Filmfreunde die Wiedererrichtung des Kino „Babylon". Es gehör-tezu Sovexportfilm, war aber so weit zerstört, daß es nicht als Kino genutzt wer­den konnte. Wladimir Posner48 hatte großen Anteil an der Rekonstruktion. End­lich wurde (.4 das nach alten Plänen wiederhergestellte Haus am 4. Mai 1948 mit dem Film „Erziehung der Gefühle" wiedereröffnet. Das war ein richtiger Feiertag. Wir hatten versucht, außer dem Synchronregisseur Volker J.Becker auch einige Synchronsprecher einzuladen. Mich drängte es wieder nach Charlottenburg zu Herbert Wilk, um ihm eine Einladung zu überbringen. Er war sehr freundlich, angetan von meinem Ansinnen an ihn. Ob er wirklich gekommen ist, weiß ich heute nicht mehr Ich weiß nur noch, daß alle Ost- und westberliner Zeitungen ihre Starkritiker schickten, daß alle in Berlin ansässigen Rundfunkstationen anwesend waren und daß der Film mit einer der bedeutendsten russischen Schauspielerin, Wera Maretzkaja, ein großes positives Echo in den Medien fand. (...) Im Anschluß an die Filmvorführung gab es einen bescheidenen Umtrunk und einen begehrten Imbiss dazu. Der bis zum Schluß gebliebene „harte Kern" wurde dann auf „Russen-LKW" nach Hause gebracht Sie mußten hinten auf der Lade­plattform stehen oder sich einfach auf den Boden setzen. Darunter war auch ich. Heissa, war das eine Fahrt.49

Wolfgang Harkenthal erinnert sich, daß auf der relativ großen Bühne des Kinos auch alle möglichen Darbietungen stattgefunden haben. So trat dort bei­

spielsweise das „Staatliche Grusinische Tanz- und Gesangsensemble" auf. Soge­nannte Bühnenschauen wurden in jenen Jahren in fast allen größeren deutschen Lichtspieltheatern gezeigt Zur Wiedereröffnung des „Babylon" gab es ein umfangreiches Vorprogramm, das in der Kritik des Rezensenten der „Berliner Zei­tung" schlechter weg kam, als das Kino selbst: Vorher absolvierte das Tschaikow-sky-Sinfonie-Orchester unter dem Dirigenten Weinstein ein entschieden etwas allzu umfangreiches Konzert, in dem Liselotte Losch von der Städtischen Oper und Otto Hopf von der Staatsoper als Gäste zu Gehör kamen. Das neueröffnete Uraufführungstheater präsentierte sich in seinen lichten Farben und seiner gediegenen Raumgestaltung aufs Vorteilhafte. Berlin ist um ein großes Filmthe­ater reicher und dies dankenswerterweise an einer Stelle, wo ganz besonderes Bedürfnis danach bestand.50

Der Kritiker der „Berliner Zeitung" war auch mit der Synchronisation des rus­sischen Films nicht ganz zufrieden, denn mittlerweile hatte man auch mit der Synchronisation fremdsprachiger Filme begonnen, nachdem die deutschen Zuschauer auch an untertitelten Fassungen russischer Filme wenig Gefallen gefunden hatten. Der Rezensent von „Erziehung der Gefühle" schrieb jedoch: Die deutsche Synchronisation stand vor schweren Aufgaben und eine wirklich über­zeugende Übereinstimmung gelang nur streckenweise: zwischen den Mundbewe­gungen und den deutschen Worten war meistens eine recht störende Diskrepanz Um so besser war die musikalische Untermalung (Hans Otto Bergmann) gelun­gen. Das starke Spiel der russischen Schauspieler ließ indessen diese Mängel in den 1-Untergrund treten.51

Das „Neue Deutschland" widmete dem wieder eröffneten Kino - das damals zu seinem Namen manchmal „in der Karl-Liebknecht-Straße" manchmal „am Schön-hauser Tor" noch nicht aber „am Rosa-Luxemburg-Platz" hinzugefügt bekam ­sogar einen eigenen kleinen Artikel (in dem kurioserweise der Name des einstigen Architekten nicht einmal erwähnt wurde): Durch Initiative der Sovexport-Film (Vertretung in Deutschland) entstand in knapp einjähriger Bauzeit aus dem zum Teil sehr zerstörten alten Filmtheater „Babylon" in der Karl-Liebknecht-Straße ein neues imposantes Kino, das den alten Namen weiterführt. Der Baumeister dieses durch seine gradlinige Architektur ins Auge fallenden Gebäudes ist Hans Rey, der auch der Schöpfer des Theatersaales im Haus der Sowjetkultur ist.

Gleichwertig dem schönen äußeren Rahmen des Kinobaues ist sein Inneres. Durch ein übersichtlich gestaltetes weiträumiges Foyer gelangt man in den 1100 Menschen fassenden, aus Parkett und Rängen bestehenden Kinosaal, dessen geschmackvolle Ausstattung einer schönen Zweckmäßigkeit entspricht Die dem

 

                                                                                                                                                                                

 

Auge wohltuende graublaue Farbe der Wände erfährt hier und da eine angeneh­me Unterbrechung durch die türenverkleidenden Vorhänge und den Bühnenvor­hang in pastellfarbenem matten Rot.

Generaldirektor Alex Ussolzew, der zur gestrigen Eröffnung des neuen Filmthea­ters anwesend war, gab der großen Freude der sowjetischen Besatzungsmacht über die Entstehung dieses, der Verbreitung der Sowjetkultur gewidmeten Hau­ses Ausdruck, indem er unter anderem sagte: „Wir russischen Menschen freuen uns über jeden neuen Bau, der hier in Berlin aus den Trümmern entsteht."

Zur festlichen Uraufführung gelangte der hervorragende sowjetische Film „Erzie­hung der Gefühle

Das neue Filmtheater „Babylon", das vor 20 Jahren seine erste Eröffnung mit Frie­drich Wolfs Film „Zyankali" erlebte, wird in der Hauptsache neue sowjetische Filme, später auch deutsche und internationale Filme zur Aufführung bringen. Weiter geplant sind Varietéorführungen und Matineen.52

Wie wir wissen, war es mit der Eröffnung im Jahre 1929 ein wenig anders. Wolfgang Harkenthal erinnerte sich, daß zur Neueröffnung des Kinos alle Ost-und westberliner Zeitungen ihre Starkritiker schickten, daß alle in Berlin ansäs­sigen Rundfunkstationen anwesend waren und daß der Film mit einer der bedeu­tendsten russischen Schauspielerinnen, Wera Marezkaja, ein großes positives Echo in den Medien fand.53

Der „Starkritiker" der „Täglichen Rundschau" hieß Hans Ulrich Eylau. Er schrieb: Der Liebknecht-Platz wird ein Kulturzentrum im neuen Berlin sein. Das hochragende Haus der Volksbühne ist bereits keine Trümmerstätte mehr, sondern ein Bauplatz, ein Aufbauplatz, an dem man sieht, wo die Arbeit hinaus will, und ihm gegenüber wurde am Dienstag das schönste Kino der Hauptstadt festlich eingeweiht.

Für die Eröffnung, der ein Konzert des Tschaikowskij-Orchesters voranging, hätte man kaum ein Werk finden können, das würdiger die Bestimmung des neuen Hauses vertrat, als Mark Donskois „Erziehung der Gefühle". Dieser Lebens­film von der Dorfschullehrerin Warenjka ist, als Ganzes genommen, meister-haft.54

„Die andere Seite", die Westberliner Fachzeitschrift „Berliner Filmblätter" ver­meldete nicht ohne Häme die Eröffnung des Kinos: Im völlig friedensmäßig über­holten und mit seinen 1148 Plätzen von der SOVEXPORT als repräsentatives Uraufführungshaus in Beschlag gelegten „BABYLON" am Schönhauser Tor fand dieser glückliche Start statt.55 Zwei Wochen darauf veröffentlichte die Zeitschrift

einige Fotos des Kinos zusammen minder Meldung, daß das „Babylon" Eintritts­preise bis zu zwölf Mark beantragt und genehmigt bekommen habe. Wenige Tage später erfolgten Währungsreform und Berliner Blockade! Die kritische wirtschaft­liche Situation der Westberliner Kinos war in jenen Wochen ein ständiges Thema der Fachpresse. So hatte die „Neue Scala", das Kino am Nollendorfplatz, das in den zwanziger Jahre als „Mozartsaal" Berlins berühmtestes Uraufführungskino gewe­sen war und in dem auch nach dem Krieg noch bedeutende Filme erstaufgeführt wurden - wie eben zum Beispiel am 1.Juni 1948 William Wylers „The Best Years of Our Lives" (Die besten Jahre unseres Lebens) - aus wirtschaftlichen Gründen für mehrere Wochen seinen Spielbetrieb einstellen müssen. Das „Babylon" war eines von 257 Kinos, die es 1948 in der Viersektorenstadt schon wieder gab. Zur Erin­nerung: 1928 waren es noch 378 Lichtspieltheater gewesen.

Eine reichliche Woche nach Eröffnung zeigte das „Babylon" und sechs weite­re Ostberliner Kinos in deutscher Erstaufführung Michail Romms „Russki wopross" (Die russische Frage) nach Konstantin Simonows in den osteuropäischen Ländern damals viel gespieltem Theaterstück. Ein Film, der schon überdeutlich die Schat­ten des immer bedrohlicher hervortretenden Kalten Krieges reflektierte. Am 1.Juni erlebte dann erstmals ein DEFA-Film in dem Kino seine Premiere: Arthur Maria Rabenalts Komödie „Chemie und Liebe". Und ab 24.Juni - genau am Tage der Wäh­rungsreform - wurde für drei Wochen G.W.Pabsts „Dreigroschenoper"-Film gespielt Zeitzeuge Wolfgang Harkenthal erinnert sich: Die Russen taten auch viel für den deutschen Film. Und beileibe nicht nur für Marika Rökk. Vielleicht hatte irgend jemand aus dem Künstlerischen Rat, oder Ernst Busch oder Friedrich Wolf über G.W.Pabsts Verfilmung der „Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht gespro­chen. Also wurde eine Kopie herbeigeschafft, ich fuhr wieder nach Charlotten-burg, diesmal zu Fritz Rasp, dem Peachum, um ihn zu einer Sonderaufführung des Films im „Babylon" einzuladen. Das war ein Riesenerfolg mit vielen prominenten Gästen aus dem Kulturleben Berlins. Leider war Bertolt Brecht nicht dabei, denn er kam ja erst später nach Berlin.56

Fritz Rasp, der Schauspieler aus Berlin-Charlottenburg, der anderthalb Jahre zuvor, im Dezember 1946 mit seiner Rolle in Gerhard Lamprechts „Irgendwo in Berlin" seine Nachkriegskarriere begonnen hatte. Die Premiere von Lamprechts Film fand nicht im „Babylon" statt, sondern in der Deutschen Staatsoper, die sich damals in ihrem Ausweichquartier am Bahnhof Friedrichstraße befand, dort im ehemaligen Admiralspalast, dem späteren Metropoltheater, wo bereits seit 1911 ein Premierenkino existierte (das in seinen Anfangsjahren vor allem die neuen Produktionen von Oskar Messter mit Henny Porten in den Hauptrollen uraufführ-

 

 

 

 

 

te). Als Rasp „Irgendwo in Berlin" drehte, hatte er verkündet, daß er demnächst in Amerika arbeiten werde. Man hätte ihn dorthin gerufen.57 Daraus muß aber wohl nichts geworden sein.

Pabsts „Dreigroschenoper-Film wurde von der Kritik begeistert begrüßt Man hatte extra für diese Wiederaufführung einen kleinen Vorspannfilm gedreht, in dem Ernst Busch behauptete, der mittlerweile siebzehn Jahre alte Film hätte „So"n Bart". Wogegen die Filmkritikerin der illustrierten Berliner Abendzeitung „Nacht-Express" Hannelore Holtz polemisierte. Und mit der Aktualität des Films meinte sie wahrscheinlich nicht die genau einen Tag vor der Wiederaufführung stattgefun­dene Einführung der Westmark in den drei Westsektoren Berlins. Sie schloß jeden­falls ihre begeisterte Rezension mit dem Satz: Auf in's Babylon!58 Schade, daß sich in dieser Angelegenheit nicht ihr Chef zu Wort gemeldet hat Ihr Boss, der Chef­redakteur des „Nacht-Express" Rudolf Kurtz, vor 1933 ein bekannter Filmkritiker und Autor des Buches „Expressionismus und Film" (1926). Im „Nacht-Express" schrieb er leider nur noch Theaterkritiken. Auch das war fast die Wiederaufnah­me einer Tradition: im Berlin der Weimarer Zeit wurden zwei der führenden Tages­zeitungen, die Redaktionen des „Berliner Tageblatt" und der „Berliner Börsen-Courier" von zwei ehemaligen Theaterkritikern geleitet

sich bei der Anruferin um Marika Rökk handelte. Vielleicht wollte sie inkognito ins „Babylon". Ich also zu Nikolajew und Bernstein, um ihnen diese Sensation zu vermelden. Besonders Georgi Nikolajewitsch telefonierte daraufhin ohne Pause. Und so erschienen also zur Premiere etliche hochrangige sowjetische Offiziere mit ihrem Anhang, fuhren in ihren großen Mercedes, Horch oder Audi vor, um den Film „Kind der Donau" aber vor allem natürlich die von den Russen ganz besonders verehrte Marika Rökk zu sehen. Wir warteten und warteten, ich lief umruhig im Foyer herum, es knisterte vor Spannung. Da kam eine eigentlich unscheinbare, schüchterne Dame, ging zur Kasse, sagte, sie sei Frau Jacoby und bitte um ihre Karten. Es war wohl die Vorgängerin von Marika Rökk als Ehefrau von Jacoby? Ohne daß die es wollte, hatte sie mich hereingelegt Und ich stand nun ganz schön dumm da. Aber der Film machte den vielen Ehrengästen soviel Spaß, daß sie gar nicht böse werden konnten.59

Den Ehrengästen vielleicht, nicht aber den Kritikern. Mit einer seltenen hefti­gen Einmütigkeit verriss die gesamte Berliner Presse diese Produktion aus den Wiener Ateliers am Rosenhügel (die bekanntlich im sowjetischen Teil der besetz­ten österreichischen Hauptstadt lagen). Der Film war unter extremen Schwierig­keiten zustande gekommen. So sollen die Musteraufnahmen mit zwei Autos täg­lich von Wien (wo es keine Kopiermöglichkeiten für Agfacolor gab) nach Berlin-Köpenick ins DEFA-Kopierwerk zur Entwicklung gebracht worden sein. Die Ate­lierbauten konnten erst dann wieder eingerissen werden, wenn die Muster nach ihrer langen Reise in Wien wieder begutachtet werden konnten. Trotzdem war das Gesamtergebnis äußerst enttäuschend. So wetterte die „Tägliche Rundschau": Genau so unwahr, wie dieses schlichte Kind von der Donau ist die Handlung die­ses Operettenfilms. Seine Verlogenheit findet in farbenprächtigen Kitschaufnah-men und in der süßlichen Walzermusik Nico Dostals ihren entsprechenden Aus­druck

Mariechen bei der Produktion derartig zähflüssiger Himbeersoßen zu helfen, ist das Handwerk und Geschäft des Regisseurs Georg Jacoby. Ein schlechter Handwerker und unreeller Kaufmann. Er verkauft den Massen, die sich zu den Film dieses prominenten Ehepaars drängen, um schwerelose Leichtigkeit zu erle­ben, oberfaule stories in penetranten Farben, die jeden, der noch alle Tassen im Schrank hat, beträchtlich aufstoßen lassen.60

Noch grundsätzlicher ging Hans Ulrich Eylau in der „Berliner Zeitung" gegen den Film vor. Sein Verriß, der mit der Unterzeile „Filmoperetten, wie sie nicht sein

Georg Jacobys erste Ehefrau, also Marika Rökks Vorgängerin, war die Schauspielerin Elga Brink.

 

 

 

1948 war das „Babylon" endgültig wieder zum Kino geworden. Die Funktion als „Aushilfstheater" mußte es nicht mehr übernehmen. Doch sogenannte Büh­nenschauen, artistische oder auch humoristische Rahmenprogramme fanden hier - wie in fast jedem größeren Kino in jener Zeit - weiterhin statt. So trat in den Wochen, als Pabsts „Dreigroschenoper" im Kino lief und die Zeitungen sich vor allem mit den vielfáltigen Auswirkungen der Währungsreform befassten, bei­spielsweise allabendlich Brigitte Mira im „Babylon" auf.

Wolfgang Harkenthal erzählt, daß zu den Filmpremieren im „Babylon" sich die Ostberliner politische Prominenz gedrängelt habe. Bei weitem nicht nur bei den Uraufführungen von DEFA-Filmen. Harkenthal: Eine lustige Begebenheit ergab sich bei der Erstaufführung des österreichischen Films „Kind der Donau" mit Marika Rökk, Regie Georg Jacoby. Vor den Premieren zugkräftiger Filme war es üblich, daß viele Leute bei mir anriefen, die Tiefe ihrer Freundschaft zu mir beteu­erten, um schließlich auf den Punkt zu kommen: Premierenkarten. Eines Tages rief bei mir eine Frau an. Sie sprach einen fremden Akzent und bat schüchtern um zwei Karten für die Premiere „Kind der Donau".Sie sei die Frau des Regisseurs-Georg Jacoby. Sie bekam die Karten. Nun war inzwischen Marika Rökk die Frau von Jacoby geworden. Ich schlußfolgerte messerscharf und äußerst naiv, daß es

 

 

 

 

sollen" erschien, befasste sich gleichzeitig mit dem neuen westdeutschen Film „Hochzeit mit Erika" von Eduard von Borsody (den der Kritiker in einem Westber­liner Kino gesehen haben muß): Nichts gegen Jubel, Trubel, Heiterkeit. Nichts gegen die gute Operette, im Film wie auf der Bühne. Nichts gegen Unterhaltung, Zerstreuung, Entspannung, Frohsinn. Aber alles gegen die systematische Verkit-schung der Welt, alles gegen die Kunstfälschermünzerei, die unter dem Deckmantel des Fortschritts auch heute noch - und nicht im Westen nur - ganz ungeniert betrieben wird!

(...) Denn dieser Wiener Farbfilm mit Marika Rökk ist nicht schlecht, er ist auf eine heimtückische Weise gut und gekonnt gemacht. Da zündet Nico Dostals Musik, da gibt es glänzende Tanzbilder, da sticht jeder Trumpf der Regie, und das Agfacolor-Verfahren erweist in schönen Landschaftsaufnahmen wieder einmal seine turmhohe Überlegenheit über die amerikanische Konkurrenz. Und doch ist alles vom Übel: hier wird mit einer Dreistigkeit die urälteste Operettenschablone auf Fortschritt ausgepinselt, daß ein offenes und deutliches Wort erforderlich ist Das offene Wort richtet sich nicht zunächst gegen Marika, Deutschlands allbe­liebten Liebling. Was sie zu zeigen hat - und das ist nicht wenig -: ihren gesun­den Wuchs, ihre tänzerische Verve, ihren mimischen Fleiß, zeigt sie so sündig und süß wie in allen früheren Filmen. Aber das Drumherum ist unerträglich. Marika als aufbaufreudiger Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän - „Woher soll das Geld kommen, mit dem Sie Ihren Kahn wieder flottmachen?" „Von der Arbeit, wie bei allen großen Sachen!" -, Marika als gesinnungstüchtige Theaterreforme-rin - „Wir müssen Schluß machen mit dem alten Operettenkitsch. Menschen aus dem Leben gehören auf die Bühne, ein Theater für das ganze Volk muß gebaut werden!" - das geht nun wirklich nicht Mit aalglatter Wendigkeit haben die Her­steller dieses Films ihr Mäntelchen nach dem neuen Wind gehängt Die Sache ist dieselbe geblieben wie seit Anno Tobak: kleines Mädchen wird großer Star, Liebe­spaar zankt sich und kriegt sich am Ende. Nur den Aufputz hat man à la mode frisiert. Die Personen der Handlung zehn Stufen tiefer auf der sozialen Stufenlei­ter angesiedelt, das Wunschtraummädchen zu einer Aktivistin des Beinezwin-kerns mit zweihundert Prozent Übersoll gemacht, die Musik garantiert jazzfrei, dazu einen kräftigen Schuß Volkstanz - dann wird die Kiste schon „im Sinne"sein. Jedoch sie ist es nicht, sie darf es nicht sein. Diesselben billigen Tricks, die das Ehepaar RökcJacobi von 1933 bis 1945 zu erklärten Repräsentanten des KdF-Geistes machten, sollen 1950 nicht von neuem den Geschmack an guter Kost ver­derben. Nach der Premiere klatschten nur wenige. Aber die Gefahr bleibt beste­hen, daß dennoch das fragwürdige Donaukind zu einem Kasseschlager ersten Ranges wird. Diese überflüssige „Welturaufführung" im Babylon zu starten, war ein schwer wieder gutzumachender Mißgriff. Was hier in vier Jahren mühseliger

Erziehungsarbeit zu lebensechter Kunst vom sowjetischen und teils auch vom deutschen Film geleistet wurde, ist jetzt mit einem einzigen Fauxpas in Frage gestellt Die Erneuerung des Volksempfindens für die heitere Kunst ist eine ZU wichtige Angelegenheit, als daß man sie den Händen der versierten Routiniers von gestern anvertraut sehen möchte.61

Ein Glück für Wolfgang Harkenthal und all die anderen Funktionäre, daß Mari-ka Rökk und ihr Regisseur nicht ins „Babylon" gekommen sind und sich keine Ost­berliner Zeitung gekauft haben. Aber hatten die Ehrengäste im Kino, darunter gewiss auch sowjetische und deutsche Kulturfunktionäre all das nicht gesehen? Hier, im „Babylon" bei der pompös als „Welturaufführung" angepriesenen Erstauf­führung begann im ersten Jahr der Deutschen Demokratischen Republik ein Kon­flikt der die DDR - und wohl alle sozialistischen Länder - von ihrem Anfang bis zum Ende begleitete: häufig waren in den DDR-Kinos Filme zu sehen, über die hätten die Funktionäre, die Kritiker eigentlich die Hände über den Kopf zusammen schlagen müssen, vielleicht taten sie es auch insgeheim, doch die Zuschauer strömten in Massen in die Kinos, wo diese Filme zu sehen waren. Von wegen Mari-ka Rökk als Repräsentatin des KdF-Geistes, man wird schwer Filme im Spielplan der DDR-Kinos finden, die dort erfolgreicher waren als Jacobys „Nachts im Grü­nen Kakadu" (1957) oder „Bühne frei für Marika" (1958). Oder auch ihr letzter Ufa-Film, Jacobys „Frau meiner Träume" (1944), der wahrscheinlich der erfolg­reichste Film der Nachkriegszeit in der Sowjetunion wie in Berlin und in der sowjetisch besetzten Zone war. Eylau, der Kritiker der „Berliner Zeitung", behaup­tete vorwurfsvoll, daß Eduard Künnekes Musik zu „Hochzeit mit Erika" wie die von Paul Abraham und Irving Berlin klinge. Man konnte die echte Musik von Irving Berlin in Berlin damals hören. In den Westberliner Kino lief zur gleichen Zeit der fünfzehn Jahre alte Film „Top Hat" (Ich tanze mich in dein Herz hinein) mit Fred Astaire und Ginger Rogers, ein Film, der in Nazi-Deutschland genausowenig wie später in der DDR laufen durfte. In der DDR war Marika Rökk der ungekrönte Star des Musikfilms - Fred Astaire, Gene Kelly und all die anderen waren in der noch fernsehlosen Zeit mehr oder weniger unbekannt Die Berliner Kinogänger dage­gen waren besser dran: sie hatten die Wahl. (Die „Liebe" der ostdeutschen Kino­gänger zum Wiener Musikfilm hatte im „Babylon" übrigens schon ein Jahr zuvor begonnen: im Februar 1949 erlebte dort - und nicht in Frankfurt/Main, Hamburg oder München - Franz Antels Opus „Das singende Haus" mit Hannelore Schroth, Hans Moser und Paul Kemp seine deutsche Erstaufführung.) Kuriosum am Rande: „Die Frau meiner Träume" war schon der große Erfolg des Kurfürstendamm-Kinos „Marmorhaus" unmittelbar nach Kriegsende gewesen. Und da schrieb der Filmkri­tiker des „Tagesspiegel" Friedrich Luft im Dezember 1945 einen kleinen, aber fei-

 

nen Verriss - wahrscheinlich eine seiner ersten, wenn nicht gar seine erste Film­kritik in dieser Zeitung. Schon die Überschrift gab die Richtung vor: Müder Nacht­traum im Marmorhaus. Der Kritiker monierte: In einer Zeit, da der Berliner Film­freund nicht weiß, wohin den Kopf wenden - so stürzt von allen Seiten Neues und Langentbehrtes aus vierer Herren Länder auf ihn ein - greift das einzige an der Gedächtniskirche erhaltene große Uraufführungstheater auf einen Film zurück, dessen Uhr in den letzten Jahren redlich abgelaufen ist. Nicht recht verständlich und schade um das mollig warme Marmorhaus, in dem die „Frau meiner Träume" nun wieder aus der Mottenkiste auf die Leinwand genommen worden ist.62 Luft verwies seine Leser dann auf einen Vergleich von Marika Rökk mit den diszipli­nierten Tanzekstasen eines Fred Astaire, die zur gleichen Zeit in einem anderen Berliner Kino bewundert werden konnten. Und er schloß seinen Beitrag mit dem Appell: Gebt das Marmorhaus frei für den neuen Blick in die Welt! Wir sind zu neugierig auf die Träume aus uns bisher verschlossenen Bezirken, als daß man uns mit solch zweitklassigen Reminiszenzen aufhalten sollte.63 Was war das Ergebnis dieses Kritiker-Appells? Der Film lief noch wochenlang im „Marmorhaus", das Kino konnte in Zeitungsanzeigen stolz Hausrekord vermelden, bald war die Viertelmillion Zuschauer erreicht! Und im „Tagesspiegel" mußte sich sogar einer der Lizenzträger der Zeitung, der Theaterkritiker Walter Karsch vor seinen Kolle­gen stellen: Ein Wespennest ist gar nichts gegen das, wohinein Luft da gestochen hat Der Postbote brachte Karten und Briefe. Manche waren nett, ein bißchen traurig über den Verriß ihrer geliebten Marika Rökk, in der Abwehr rührend, aber ehrlich. Die Masse: Wir lassen uns unsere Marika nicht schlecht machen, der deutsche Film... 180 000 Besucher. Sie können es nicht lassen: Wenn man als Deutscher etwas Deutsches kritisiert, verlieren sie die Haltung. Stellen wir fest: Es hat deutsche Filme gegeben, die sich durchaus sehen lassen können, und die deutsche Filmproduktion wird hoffentlich bald beweisen können, daß sie, befreit von den Fesseln der Hitlerzensur, gleiches schaffen kann wie das Ausland. Immer­hin: 8roadway-Melodie - das haben wir nicht erreichen können, vielleicht allein schon wegen des Fehlens der technischen Möglichkeiten. Das war ein Maßstab, an dem gemessen Marika Rökk zu kurz befunden wurde. Und 180000 Besucher? Hitler scharte 1932 in einer freien Wahl siebzehn Millionen Wähler um sich. Publikumserfolge sind selten ein Wertmaßstab, für den Film nicht, und für die Politik nicht.64

Marika Rökk deutet in ihren Erinnerungen „Herz mit Paprika" die Ausein­andersetzungen um „Kind der Donau" lediglich an. Mit den Filmen ging's wie im Lift: Erfolge und Mißerfolge. „Kind der Donau", unter Jacobys Regie, mit viel Folclore und unter russischer Hoheit in den Wiener Rosenhügel-Ateliers gedreht,

 

geriet in die Mühle der Weltanschauungen.65 Mehr gab es dazu aus ihrer Sicht offenbar nicht zu sagen. Keine Zeit, kein Platz für so etwas wie „Weltanschauung". In der sich sozialistisch nennenden DDR - wie auch in der Bundesrepublik - jeden­falls war und blieb sie auch ohne Weltanschauung ein außerordentlich populärer Star. Ob man nun daneben Astaire sehen konnte oder nicht

Schon ein Jahr zuvor, im August 1949 hatte Willi Forsts Film „Wiener Mädeln" im „Babylon" seine deutsche Erstaufführung erlebt Der Regisseur soll darüber erbost gewesen sein. Bei einem Besuch in Berlin gab er der in Zehlendorf erschei­nenden Zeitschrift „Filmblätter" (Fachorgan der deutschen Filmwirtschaft) ein Interview: Sovexport zeigt im Babylon den Forst-Farbfilm „Wiener Mädel", ohne daß Willi Forst bisher davon eine Ahnung hatte. Dieser Film wurde in den letzten Kriegstagen, als die Russen schon in Baden bei Wien standen, abgedreht. Beim Zusammenbruch befanden sich in Wien, Prag und Berlin je eine Kopie. Obwohl sich Forst bereit erklärt hatte, den Film selbst zu schneiden und fertigzustellen, haben die Russen ohne sein Wissen aus den in Berlin und Prag erbeuteten Kopien eigenmächtig einen Film zusammengesetzt. „Was da jetzt im Babylon läuft, erkenne ich nicht als meinen Film an, denn gerade bei einem Farbfilm ist der Schnitt das Wichtigste und das, was mir am meisten am Herzen liegt Aber ich werde es nicht ändern können, daß der Film unter meinem Namen läuft."66

Den Film - eine Biografie des Walzer-Komponisten Carl Michael Ziehrer - zog Sovexport im Oktober 1949 aus dem Verleih zurück. Forst montierte dann in Zürich eine neue Fassung, die im Frühjahr 1950 in der Bundesrepublik und auch wieder in der DDR in die Kinos kam. In den DDR-Kinos soll allerdings wiederum nur eine verstümmelte Fassung zu sehen gewesen sein. Die Westberliner Presse behauptete, daß die Zensoren dort an verschiedenen Militärmusiken Anstoß genommen hätten...

Und was machte die Konkurrenz als 1948 das „Babylon" wieder begann? Nicht die große Konkurrenz, die Kudamm-Kinos im Westen. Die werden das relativ klei­ne Haus, tief im sich immer weiter entfernenden Osten als „Russenkino" allenfalls registriert haben. Doch die unmittelbare Konkurrenz des „Babylons", die Kinos aus der Nachbarschaft. Es gab nicht mehr so viele. Der Krieg hatte auch die Kinos in Berlins Mitte nicht verschont. Das U.T. Weinbergsweg gab es genau sowenig wie das U.T. Alexanderplatz, beide großen Ufa-Kinos waren zerstört. Die Konkurrenz der kleinen Häuser, die Reste der „Kinostraße" um den Alexanderplatz, das „Münz-Theater", auch Pritzkows Kino hatten überlebt Die „Berliner Zeitung" publizierte ab Februar 1948 jeden Freitag „Die Film-Ecke", wo der Spielplan der führenden

 

Berliner Kinos abgedruckt wurde. Pritzkow gehörte natürlich nicht dazu. Wohl aber das „Babylon", das im Februar/März schon aufgeführt wurde - jedoch noch mit dem Hinweis „Eröffnung demnächst". Die Kinos waren unterteilt nach Stadt­teilen - Ost und West noch friedlich vereint Im Westen gehörten das „Astor", die „Film-Bühne Wien", das „Marmorhaus", auch das „Filmtheater im Sportpalast" hinzu, im Norden das „Casino" in der Brunnenstraße und die Corso-Lichtspiele. Das „Babylon" fungierte unter Zentrum. Dazu gehörten noch das „Franziskaner" am Bahnhof Friedrichstraße, die „Imperial-Lichtspiele" in der Rosenthaler Straße (heute Kabarett „Chamäleon") und das „Universum" am Alexanderplatz (Lands-berger Straße 42/43). Und was spielten die, als im „Babylon" „Erziehung der Gefühle" zu sehen war? Das „Imperial" zeigte den großen DEFA-Film „Straßenbe­kanntschaft", im „Franziskaner" wurde der Abenteuerfilm nach Jules Verne „Der 15-jährige Kapitän" gespielt Im „Münz-Theater" war „Kein Platz für Liebe", ein DEFA-Film von Hans Deppe. Das größte Geschäft hat vermutlich das „Universum" mit dem bayrischen Schwank „Ich bitte um Vollmacht" mit Hilde Hildebrand und Sabine Peters gemacht, einem Film aus dem Jahre 1944. Die unmittelbare Kon­kurrenz des „Babylon" war also durchaus bescheiden. Ganz anders sah es natür­lich schon im Westen aus. In der „Filmbühne Wien" lief zur selben Zeit in deut­scher Erstaufführung das amerikanische Biopic „Rhapsodie in Blau", Irving Rap-pers Gershwin-Biografie. Und im vor kurzem erst wieder eröffneten „Filmtheater im Sportpalast" war der britische Farbfilm „Caesar und Cleopatra" mit Claude Rains und Vivien Leigh zu sehen.

Konkurrenz war den Kinos in der Viersektorenstadt ohnehin von Anfang an vertraut Als beispielsweise das „Babylon" später in vier täglichen Vorstellungen „Kind der Donau" zeigte, spielte das davon nicht weit entfernte „Münz-Theater" in der Münzstraße 5 - ein ehemaliges Ladenkino, eines der ältesten Berliner Kinos überhaupt, das zwei Weltkriege überstanden hatte und bis 1964 noch spielte - in täglich sechs Vorstellungen (am Sonnabend sogar sieben) den ersten Teil des rus­sischen Monumentalopus" „Fall von Berlin" (der im Juni desselben Jahres im „Babylon" seine deutsche Erstaufführung erlebt hatte.) Im Zwei-Stunden-Rhyth­mus wurde im „Münz-Theater" vorgeführt - und man kann davon ausgehen, daß die Schüler der umliegenden Schulen nicht traurig waren, wenn anstelle von zwei Schulstunden „Der Fall von Berlin" im „Münz-Theater" angesagt war. In der Frei­zeit, am Nachmittag oder am Abend wechselte man einfach den Sektor und ging zum Beispiel am Potsdamer Platz in die „Camera" oder in den Weddinger „Merce­des-Palast" und sah sich - vorausgesetzt man konnte den Eintritt bezahlen ­Michael Curtiz" Farbfilm „The Adventures of Robin Hood" (Robin Hood, König der Vagabunden) mit Errol Flynn an, in den „Humboldt-Lichtspielen" in der Badstraße

Fritz Langs „The Woman in the Window" (Gefährliche Begegnung) oder im „Mar­morhaus" Mamoulians „Blood and Sand" (König der Toreros). Auch John Fords „How Green Was My Valley" (Schlagende Wetter) war in dieser Woche in Berlin zu sehen. „Der Fall von Berlin" und „Kind der Donau" gegen „Robin Hood", „How Green Was My Valley" und „The Woman in the Window", Marika Rökk und Stalins privilegierter Regisseur, der Georgier Michail Tschiaureli gegen John Ford, Fritz Lang und Michael Curtiz.

Und für alle Filme warben Anzeigen in der „Berliner Zeitung": Zumindest im ersten Jahr der DDR war die Stadt noch nicht allzusehr geteilt Eigentlich waren es nahezu paradiesische Zeiten für Menschen, die sich für das Kino interessierten und die nach zwölf Jahren Faschismus viel nachzuholen hatten. So konnte sich beispielsweise ein aufmerksamer Kinogänger in der Woche vom 14. zum 20.April 1950 entscheiden, ob er ins „Babylon" oder in ein anderes von sechs Ostberliner Kinos ging, die in Wiederaufführung Pudowkins „Sturm über Asien" zeigten - oder ins Charlottenburger „Delphi", wo Howard Hawks" (von der deutschen Synchroni­sation etwas „modifizierte") Nachkriegskomödie „I Was a Male War Bride" (Ich war eine männliche Kriegsbraut) mit Cary Grant lief In einer langen Rezension erinnerte Herbert Jhering in der „Berliner Zeitung" an die deutsche Erstauffüh­rung von Pudowkins Werk. Hawks" Produktion dagegen wurde von der Redaktion der Zeitung nicht wahrgenommen oder bewußt übersehen. „Übliche Ami-Klamot­te" oder so. Aber die Anzeige für den amerikanischen Film erschien noch zumin­dest in der Ostberliner Zeitung.

Daß die sich langsam aber sicher teilende Stadt für die Bewohner durchaus auch gewisse Vorteile haben konnte, wurde schon damals selbst von den Journalisten Ostberliner Zeitungen vermerkt. So schrieb im April 1948, wenige Tage vor der Wiedereröffnung des „Babylon" der Kritiker des „Sonntag" - herausgegeben vom Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands - einen „Berliner Film­spiegel" und leitete seinen Beitrag mit folgenden Sätzen ein: Berlin hat heute wie kaum ein anderer Platz in Deutschland (und vielleicht sogar auf der ganzen Welt) die Gelegenheit, einen Überblick über die internationale Filmproduktion zu erhal­ten. Die Sektoren der Stadt sind noch nicht hindernde Grenzen geworden, und der Interessent kann französische, sowjetische, amerikanische und englische Neuer­scheinungen oder Wiederholungen sehen. Daß sich bei diesem großen Überblick die Kritik vergleichend bilden kann, ist eine angenehme und lehrreiche Folge.67 Der Mann hatte eine prophetische Gabe: Die Sektoren der Stadt sind noch nicht hindernde Grenzen geworden...

 

Und was besprach er? Die beiden Jutkewitsch-Filme „Tschelowek s ruhjom" (Der Mann mit dem Gewehr) und „Jakow Swerdlow" (Der erste Präsident) aus der Sowjetunion, Carol Reeds „Odd Man Out" (Ausgestoßen) aus dem Vereinten Königreich, Tay Garnetts „Mrs.Parkington" (Tagebuch einer Frau) und Michael Cur-tiz" „The Sea Hawk" (Der Herr der sieben Meere) aus den USA sowie Jean Renoirs „La bete humaine" (Bestie Mensch) aus Frankreich. Die Mehrzahl waren keine aktuellen Filme, sondern Arbeiten aus der Vorkriegszeit, die die deutschen Kino­gänger bisher nicht sehen konnten. Sie liefen alle jedoch nicht in Gesamtberlin, sondern im jeweiligen Sektor. Jean Gabin sah man im Berliner Norden, Errol Flynn im Süden, James Mason im britisch besetzten Westen und Maxim Schtrauch in Berlin-Mitte bzw. im Osten. Nicht allzuviele Jahre später ignorierte allerdings die Berliner Presse die Filme, die nur im anderen Sektor liefen. Ein Vergleich gar zwi­schen westlichen (kapitalistischen) Produktionen und östlichen (sozialistischen) wurde dann von den im Osten erscheinenden Zeitungsredaktionen als Sakrileg gegen die heilige Lehre der marxistischen Weltanschauung angesehen. Ein Ver­gleich zwischen Curtiz und Tschiaureli? Unmöglich! Die Ignoranz im Westen war nicht viel anders.

Der Massenstart wichtiger Filme setzte sich fort, zumindest im sowjetisch besetzten Teil Berlins. So wurde beispielsweise am 2.Januar 1948 der Film „Junost Maksima" (Maxims Jugend) von Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg gleichzei­tig in dreizehn 0) Ostberliner Kinos erstaufgeführt. Darunter auch in Häusern, die noch heute existieren, längst aber nicht mehr als Kinos genutzt werden, so im „Franziskaner" am Bahnhof Friedrichstraße, den „Mila-Lichtspielen" in der Schön-hauser Allee und den „Delphi-Lichtspielen" in Weißensee.

Am 16.September 1949 wurde dann das DEFA-Filmtheater Kastanienallee mit einer Sondervorführung von Staudtes Film „Rotation" vor Berliner Druckereiar­beitern eröffnet, das zweite Ostberliner Premierenkino. Hinfort fanden viele Uraufführungen im „Babylon" und im DEFA-Filmtheater Kastanienallee, dem ehe­maligen Prater und Aushilfstheater der Volksbühne gleichzeitig statt

Das „Babylon" war immer mal wieder auch der Ort, wo sich gesellschaftspoli­tische Auseinandersetzungen - so weit sie sich in der Öffentlichkeit abspielten ­zeigten. Beispielsweise im „Fall Titanic". Da hatte im Kriegsjahr 1942/43 Herbert Selpin für die Tobis einen Film über den Untergang der „Titanic" gedreht, der 1943 im besetzten Paris aufgeführt, aber dann von Goebbels wieder verboten wurde. Selpin fiel in Ungnade. 1950 wurde der Film von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) für die Aufführung in den Kinos der Bundesrepublik frei­

gegeben. Nach mehreren sehr erfolgreichen Aufführungen verboten ihn die Alli­ierten jedoch wieder - wegen einer angeblich allzu deutlich antibritischen Ten­denz. Daraufhin sahen ihn sich die Funktionäre der sowjetischen Besatzungs­macht an und ließen ihn für die DDR passieren - wo er am 7.April 1950 im „Baby­lon" seinen sehr erfolgreichen Lauf durch die DDR-Kinos beginnen konnte. Auch das gab es in den düsteren Tagen des Kalten Krieges: ein deutscher Film mit den noch immer so sehr beliebten Ufa-Stars Sybille Schmitz und Hans Nielsen, der im Westen verboten und im Osten erlaubt war.

Andere Filme erlebten im „Babylon" ihre sehr erfolgreiche Uraufführung, die in den letzten Kriegstagen nicht mehr völlig fertig gestellt worden waren, soge­nannte Überläufer. So kam beispielsweise am 9.Juni 1950 hier ein Film zu seiner Uraufführung, den sein Regisseur Rolf Hansen bereits 1945 abgedreht hatte: „Mathilde Möhring", eine Fontane-Adaption mit prominenter Besetzung: Heide­marie Hatheyer, Paul Klinger, Paul Bildt. Die DEFA hatte den Film fertig gestellt Erst zwei Jahre später kam der Film - unter dem Titel „Mein Herz gehört Dir" ­auch in der Bundesrepublik heraus.

Das „Babylon" hatte im Laufe der Zeiten auch seine Stammgäste, Menschen, die in der Gegend wohnten und sich regelmäßig hier Filme ansahen. Es gab ja nicht mehr so viele Kinos rund um den Alexanderplatz. Die meisten waren zerstört oder wurden zweckentfremdet genutzt. Kleine „Zeitkinos" d.h. Filmtheater, in denen nur die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge" sowie kurze Dokumentarfil­me gezeigt wurden, waren keine Lösung auf Dauer. Nachdem im Bahnhof Frie-drichstraße das erste Ostberliner „Zeitkino" eröffnet worden war, folgte am 15.August 1950 die Eröffnung des zweiten im Bahnhof Alexanderplatz.

Doch Spielfilme sahen viele weiterhin regelmäßig im „Babylon". Beispielsweise der Star-Rechtsanwalt ProfFriedrich Karl Kaul, der nur wenige Meter entfernt seine Kanzelei hatte. Er soll ein eifriger Kinogänger gewesen sein - hatte er doch selbst ehrgeizige Filmambitionen und gab später dann einem zukünftigen Kolle­gen und Nachbarn, dem Schriftsteller Ulrich Plenzdorf in der Öffentlichkeit schon mal eine „parteiliche Belehrung" über moralisches Verhalten eines sozialistischen Schriftstellers. Einer der Stammgäste des „Babylon" war in den frühen fünfziger Jahren auch der Romanist und Zeit seines Lebens auch leidenschaftliche Kino­gänger (und Marika Rökk-Liebhaber) Victor Klemperer. In seinem Tagebuch schrieb er stets nicht nur über die Filme, die er sah, sondern zumeist auch über den Ort, die verschiedenen Kinos. In Dresden war sein Stammkino (solange er in der Nazizeit als Jude noch in ein öffentliches Lichtspieltheater gehen durfte) das

 

                                                                                                                                             

 

Prinzeßtheater. In Berlin, wo er nach dem Krieg als Professor an der Humboldt-Universität und als Mitglied der Fraktion des Kulturbundes in der Volkskammer tätig war, ging er immer wieder ins „Babylon". Seine spätere zweite Frau Hadwig Klemperer hatte 1952 am Luxemburgplatz ein kleines möbliertes Zimmer gemie­tet - dem Babylon gegenüber.68 Fortan schrieb er von unserem Babylon. Hier sah er - im Babylon in unserer schönen Loge69 - allerdings dann auch den deutschen „Rembrandt"-Film von Hans Steinhoff mit Ewald Baiser. Einerseits war er ja begei­stert, andererseits aber entsetzt über den in einer Versteigerungsszene offen zum Ausdruck kommenden Antisemitismus. Er wollte versuchen dafür zu sorgen, daß vor allem diese Szene aus den DDR-Kopien des Films geschnitten wird. Daß Stein­hoff auch Regisseur des Films „Hitlerjunge Quex" gewesen war, der aus faschisti­scher Perspektive sehr frei die Vorgänge um die Ermordung von Horst Wessel schilderte, wußte Klemperer offenbar nicht Daß die für den Kinospielplan in der DDR verantwortlichen Funktionäre dies ebenfalls nicht gewußt haben sollen, ist nur schwer vorstellbar. Bezeichnenderweise verschwieg die „Progreß-Filmillu­strierte, das DDR-Programmheft zu „Rembrandt" ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit den Namen des Regisseurs. Die wußten also sehr wohl, wer hier hin­ter der Kamera gestanden hatte. Doch den Film zeigten sie trotzdem. Wie so eini­ge andere „unpolitische" Nazifilme auch...

Klemperer sah im „Babylon" auch einen der ersten französischen Filme, der in der DDR gezeigt wurde, Jean-Paul Le Chanois" „Sans laisser d"adresse" (Ohne Angabe der Adresse/Adresse unbekannt), vor allem aber auch die großen Filme des italienischen Neorealismus. Er war begeistert von De Sicas „Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe) und von De Santis" „Roma ore undici" (Rom 11 Uhr). Und der Volks­kammer-Abgeordnete und Funktionär des Deutschen Kulturbundes machte sich einige Gedanken über „Rom, 11 h": Einer der allerbesten u. erschütterndsten Filme der letzten Jahre. G.s.D: „nur" kritischer u. nicht hoffnungsfeiernder sozialisti­scher Realismus! (...) Große Kunst.70

Das war am 24.Oktober 1954. Ein halbes Jahr früher, am 21.April 1954 war gegenüber das Gebäude der wiedererbauten Volksbühne eröffnet worden. Es hatte fange, sehr lange gedauert Schon als 1948 das „Babylon" wieder zu spielen begann, schrieben Zeitungen, daß an dem Theater gebaut würde. Im Februar berichtete die „Berliner Zeitung", daß Baugerüste, Loren-Züge und ein großer Kran von intensivem Baugeschehen kündeten. Wahrscheinlich handelte es sich damals lediglich um Sicherungsarbeiten an der Ruine. Ende des Monats dann die Meldung, daß die Enttrümmerungsarbeiten beendet seien und die Sowjetische Militäradministration (SMA) den „Wiederaufbaubefehl" erteilt habe.71 Man rech­

nete mit einer Bauzeit von einem Jahr. Wie man sich schon damals irren konnte! Im Mai 1948, als das „Babylon" wiedereröffnet wurde, waren im Bärensaal des Alten Berliner Stadthauses in der Klosterstraße die Entwürfe für den Innenausbau ausgestellt worden. Einer der Entwürfe stammte von Hermann Henselmann. Man war sich damals noch nicht einig, ob der Neubau einen, zwei oder gar drei Ränge haben sollte.

1954 begann dann im wiederaufgebauten Haus der Volksbühne die Ära Wisten. Intendant war der in West-Berlin wohnende Fritz Wisten, der das Theater bis zum Mauerbau 1961 leitete. Die neue Volksbühne am Luxemburgplatz war als „sozialistisches Volkstheater" eröffnet worden. Trotzdem kam es dort häufig zu bedeutenden Aufführungen - unter Fritz Wisten, später vor allem aber auch unter Benno Besson und dem Regieduo Manfred Karge/Matthias Langhoff. Nicht nur im Deutschen Theater und am Schiffbauerdamm wurde Theatergeschichte geschrieben, auch am Bülow- bzw. Rosa-Luxemburg-Platz. Ein einziges Mal wurde die Volksbühne übrigens als Premierenkino genutzt Als im Mai 1956 Martin Hell­bergs Grossfilm „Thomas Müntzer" nach Friedrich Wolf uraufgeführt werden soll­te, suchte man den dementsprechenden großen Saal und kam auf das Theater gegenüber vom „Babylon". Doch das Kino hatte noch längst nicht ausgedient als Premierentheater. Nur einen Tag nach „Thomas Müntzer" erlebte im „Babylon" die Opernverfilmung der DEFA „Zar und Zimmermann" seine Uraufführung. Die DEFA feierte in diesen Tagen mit drei neuen Filmen ihr zehnjähriges Bestehen.

Sein Monopol und Privileg mehr oder weniger einziges Ostberliner Premierenki­no zu sein, spiegelte sich auch in DEFA-Filmen selbst wieder. So drehte 1958 der gebürtige Ungar Janos Veiczi seinen zweiten Spielfilm „Reportage 57" - eine recht holzschnittartige Beschreibung des Lebens in der geteilten, aber noch mauerlosen Stadt Berlin - auch vor und im „Babylon". Annekatrin Bürger spielte die Hauptrolle, eine junge Kellnerin, die ihren Job in einer Ostberliner Kneipe aufgibt und im HO-Lokal Zenner zu arbeiten beginnt Vor dem Kino trifft sie sich mit einem Freund ihres Mannes. Man spielt Konrad Wolfs „Lissy". Drinnen dann sieht man auf dem Balkon ihren Mann (Willi Schrade), wie er vergeblich auf seine Frau wartet Die Premiere von „Reportage 57" fand natürlich im April 1959 im „Babylon" statt Auf der Bühne wer­den die beiden Hauptdarsteller gewesen sein, Annekathrin Bürger und Willi Schrade. Ein halbes Jahr später, im Oktober mußten die beiden sich schon wieder verbeugen: da standen sie für Slatan Dudows „Verwirrung der Liebe" auf der Bühne...

Dudow wiederum hatte sich ein Jahr zuvor, 1958 hier verbeugt Damals erleb­te sein erster Spielfilm „Kuhle Wampe" in diesem Kino seine Wiederaufführung

 

                                                                                                                                             

 

nach dem Krieg. Zehn Jahre zuvor, im Juni 1948 hatte die Filmkritikerin des „Nacht-Express" anläßlich der Wiederaufführung von G.W.Pabsts „Dreigroschen­oper-Film noch geschrieben: Jammerschade, daß keine Kopie von seinem (Ernst Buschs) Film „Kuhle Wampe" erhalten blieb.72 Damals vermutete man noch, daß Dudows Film für immer verloren sei. Die einstige Premiere von „Kuhle Wampe" fand 1932 natürlich nicht im „Babylon" am Bülow-Platz, sondern im Berliner Westen, im großen, über 2000 Zuschauer fassenden Wilmersdorfer Kino „Atrium" statt. Erst nach der Premiere kam „Kuhle Wampe" auch in die anderen Berliner Bezirke. Einer der Zuschauer, die den Film damals, 1958 im „Babylon" erstmals sah, war übrigens ein junger Westberliner Student, Ulrich Gregor, der spätere Gründer und bis 20O1 auch Leiter sowohl des Schöneberger „Arsenal"-Kinos als auch des Internationalen Forum des Jungen Films. Gregor zeigte Dudows Film nach dem Bau der Mauer immer wieder einem großen Publikum im „Arsenal". Über den anhaltenden Publikumserfolg von „Kuhle Wampe" in Westberlin wunderte man sich (natürlich nur insgeheim) im Osten der Stadt...

Das Privileg, neben dem DEFA-Filmtheater Kastanienallee und dem Filmthea­ter am Friedrichshain Ostberlins Premierenkino zu sein, als führendes „Hauptstadt-Kino" zu gelten, dieses Privileg mag dem Theaterleiter am Rosa-Luxemburg-Platz nicht geringe wirtschaftlich Probleme bereitet zu haben. Jede Woche eine deutsche Erstaufführung, in jedem Monat die Premiere eines neuen DEFA-Films - das hörte sich gut an, wirtschaftlich war es dagegen mehr als problematisch. Denn bei die­sen Erstaufführungen handelte es sich durchweg um sowjetische Filme bzw. Pro­duktionen aus den anderen sozialistischen Ländern. Von den wenigen Überläufern und einigen ganz seltenen österreichischen Unterhaltungsfilmen abgesehen, hat­ten die neuen Filme aus Prag, Budapest, Warschau oder Peking für das Ostberliner Publikum wenig Attraktives. Was hatten „Die Töchter Chinas", „Um einen Fußbreit Land", „Zwei Brigaden" oder „Neue Kämpfer werden auferstehen" und „Fern von Moskau" mehr oder gar besseres zu bieten als Esther Williams, die „Badende Venus"? 1951 war der Kalte Krieg in der Stadt längst bestimmend geworden. Im „Babylon" sollten sich die Ostberliner über die Probleme des Aufbaus des Sozia­lismus informieren, in der großen Westberliner Waldbühne schwamm Esther Willi-ams extra für die Besucher aus dem Osten, die die Eintrittskarten in DM-Ost kau­fen konnten. Im Westen gab es erstmals Internationale Filmfestspiele, im Osten präsentierten sich „Die Ritter des goldenen Sterns". Von Anfang an war es ein ungleicher Wettbewerb, stets war das „Babylon" auf der Verliererseite.

1955 war das Kino, das zuvor Sovexportfilm und damit der SAG (Sowjetische Aktiengesellschaft) gehörte, in „Volkseigentum überführt" worden. Für die gewal-

tige Summe von genau 3.919.878,68 Mark der Deutschen Notenbank verkaufte es der Chef der Immobilienabteilung der Handelsvertretung der UdSSR, ein Herr Kulikowski an Arthur Becker, den Leiter des Verwaltungsamtes im Büro des Präsi­diums des Ministerrats bei der Regierung der DDR. Fast vier Millionen Mark, eine gewaltige Summe für ein Kino. Andererseits war das Geld nicht mehr allzuviel wert damals im Jahre 1955. Vierzig Jahre zuvor, 1913 hatte man das riesige Grundstück der „Volksbühne" noch für 1,7 Millionen Mark bekommen. Das „Baby­lon" wurde Teil des VEB „Berliner Filmtheater" Drei Jahre zuvor, 1952 hatte es in Ost-Berlin noch 103 Kinos gegeben, 21 davon im Stadtbezirk Mitte. Interessant waren die unterschiedlichen Besitzverhältnisse der einzelnen Kinos im dritten Jahr nach Gründung der DDR. Von den 21 Lichtspieltheatern in Berlin-Mitte waren noch acht in privater Hand, sechs standen unter Treuhandverwaltung, vier gehör­ten einer „Volksbildungs- und Kulturstätten GmbH", zwei der DEFA (die beiden Zeitkinos in den Bahnhöfen Friedrichstraße und Alexanderplatz) sowie zweiein­halb waren Sovexport-Kinos (neben dem „Babylon", gehörte das „Stern"/"Franzi-skaner"-Kino unter den S-Bahnbögen am Bahnhof Friedrichstraße dazu, sowie zur Hälfte das „Casino" in der Brunnenstraße 154.)73

Mit Inbetriebnahme der beiden repräsentativen Kinos „Kosmos" (1962) und „International" (1963) verlor das „Babylon" endgültig seine herausragende Stellung als Ostberlins Premierentheater. Schon zuvor, in den fünfziger wie den frühen sechziger Jahren fanden die Uraufführungen von DEFA-Filmen auch anderswo, am Friedrichshain, in der Kastanienallee, vor allem aber auch im „Colosseum" an der Schönhauser Allee statt Immer häufiger führte man die Filme erstmals auch in den DDR-Bezirken, vor allem im großen Leipziger „Capitol" erstmals auf Nicht selten gab der Premierenort auch Auskunft über den politischen Stellenwert, den die ver­antwortlichen Funktionäre dem Film gaben. So konnte es beispielsweise geschehen, daß ein künstlerisch bedeutsames Werk wie Ralf Kirstens „Steinzeitballade" 1961 weder im „Babylon", noch im „Colosseum" oder in der Kastanienallee uraufgeführt wurde, sondern im abgelegenen und vielen Ostberliner Kinogängern gar nicht bekannten Lichtenberger „Volkshaus". Auch mit dieser Art von „Verbannung" ver­suchte man kulturpolitische Akzente zu setzen. So waren 1972 die beiden Urauf­führungen von Rainer Simons „Sechse kommen durch die Welt" und Lothar War-nekes „Es ist eine alte Geschichte" am Rosa-Luxemburg-Platz gleichzeitig fast so etwas wie Ende und Anfang von zwei Epochen. Mit Simon, Warneke und anderen begann bei der DEFA deutlich sichtbar ein Wechsel der Generationen, für das „Babylon" bedeutete dies aber auch das Ende seiner herausgehobenen Stellung unter Ostberlins Filmtheatern. Lediglich einige wenige DEFA-Kinderfilme begannen 1974 hier noch ihren Lauf durch die Filmtheater der DDR.

 

Eine deutliche Belebung für das Kino brachte dann jedoch der 5.Mai 1981, wo das Archivfilmtheater „Camera" nach seiner Odyssee durch Berlin - von der Frie-drichstraße 112a, über Spielstätten in der Humboldt-Universität und dem Museum für Deutsche Geschichte bis zum OTL-Kino in der Oranienburger Straße 54 (heute multikulturelles Zentrum „Tacheles") - sein endgültiges Domizil fand. Zumindest an zwei Tagen in der Woche (dienstags und freitags). Ohne jeden Zwei­fel waren die „Camera"-Programme mehr als nur Ergänzungen des normalen, immer als sehr unzulänglich angesehenen Kinospielplans.

Der Start erfolgte wieder einmal unter vielfältigen technischen Unzulänglich­keiten. Die Technik befand sich in einem provisorischen Zustand. Zunächst gab es keine Einsprechanlage - ein Manko, das für ein Kino, wo häufig fremdsprachige Filme gezeigt wurden, immens war.

Man begann 17.30 Uhr mit Tintners „Cyankali", jenem Film, mit dem vor 51 Jahren zwar das Kino nicht eröffnet worden war, der aber hier dennoch seine Uraufführung erlebt hatte. Am Abend wurde Sergej Gerassimows Abenteuerfilm „Die sieben Kühnen" gespielt Später folgten Filme von Erich Engel, auch Rosselli-nis „Paisá". Der italienische Film hatte - wie so viele - in der „Camera" seine DDR-Erstaufführung erlebt - in der italienischen Originalfassung. Als er im Oktober 1949 am Kurfürstendamm gezeigt wurde, gab es - zumindest im Westteil der sich immer mehr teilenden Stadt, einen kleinen Skandal: der deutschen Fassung wegen. Die nämlich war im Osten der Stadt hergestellt worden. Und als deutschen Sprecher hatte die Synchronfirma ausgerechnet einen Schauspieler engagiert, der vor Kriegsende für die Ufa-Wochenschau gearbeitetet und danach fast nahtlos für die DEFA tätig war: Horst Preussker. Ungeachtet aller Anfeindungen aus dem Westen arbeitete Preussker weiter als Sprecher und Schauspieler (so u.a. auch in Georg C.Klarens Film „Die Sonnenbrucks"). „Nie" wurde in der DDR erst viele Jahre später - ohne die markante Stimme Preusskers - gezeigt: in der „Camera".

Quiet an the Western Front" wie auch Wilhelm Thieles Kuriosum „Tarzan"s Tri­umph". Selbst ein Regisseur furchtbarer Nazifilme wie Gustav Ucicky war mit einem sogenannten unpolitischen Film wie „Ein Leben lang" vertreten.

Am 18.Dezember 1981 gab es im „Babylon" dann wieder eine Neuerung: Die technischen Voraussetzungen hatten sich langsam, sehr langsam verbessert und so konnte in der 20.00 Uhr-Vorstellung Jürgen Kurz Bunuels surrealistischen Stummfilm „Un chien andalou" erstmals auf dem Klavier - nicht aber auf der Kinoorgel - musikalisch begleiten. Viele, teilweise auch eigenwillige musikalische Interpretationen sollten im Laufe der Jahre folgen.

Am 21.Januar 1982 konnte die „Camera" ihren 2O.Geburtstag im „Babylon" feiern. Ein Höhepunkt im Programm war drei Jahre später, im September und Okt­ober 1985 ein großer Zyklus mit mehreren Antinazi-Filmen aus Hollywood, die zum großen Teil erstmals in einem deutschen Kino gezeigt wurden wie Douglas Sirks „Hitler"s Madman", Farrows „The Hitler Gang" und Otto Premingers Arbeit „Margin for Error" (Irrtum nicht ausgeschlossen). Diese Aufführungen waren nicht genug zu lobende Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Filmkultur in Berlin.

 

Die „Camera" spielte dann in den folgenden Jahren zwar nicht alles, aber sehr vieles, was zum sogenannten Goldenen Fond des Kinos gehört und gehörte. Dem Staatlichen Filmarchiv war es auf Grund guter internationaler Beziehungen mög­lich, ein Programm fast ohne alle ideologische Scheuklappen zu entwickeln. Es gab zwar kuriose Ausnahmen - beispielsweise durfte Griffiths Epos „Birth of a Nation" auch in der „Camera" nicht gezeigt werden - doch ansonsten herrschte hier ein Geist der Liberalität, den man anderswo in der DDR vermissen mußte. Da gab es Machatys „Extase" und Viscontis „Ossessione" genauso zu sehen wie die klassischen Horrorfilme „King Kong", „Frankenstein" und „Freaks", Milestones „All

                                                                                                                                                                                

 

Und dann kam die Wende. Wie so vieles wurde auch das „Babylon" aus seinem mehr oder weniger geruhsamen Alltagstrott gerissen. Im „International" erlebte Heiner Carows Film „Coming out" seine Premiere, und die nächtlichen Kinobesucher konnten - wenn sie wollten - an die Sektorengrenze gehen, die man 28 Jahre lang offiziellerseits „Antifaschistischen Schutzwall" genannt hatte, und den anderen Teil der Stadt betreten, jenen geheimnisvoll fernen Raum, der auf Ostberliner Stadtplänen stets nur ein weißer Fleck gewesen war. Als die Mauer gebaut worden war, am 13.August 1961 hatte man im „Babylon" einen italieni­schen Film, Luigi Zampas „Der Richter' auf dem Programm. 28 Jahre später, am 9.November 1989 spielte das „Babylon" in der 19.00 Uhr-Vorstellung „Angebote ­Neue DEFA-Dokumentarfilme". 21.00 Uhr dann fand ein Jazz-Konzert statt, eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Kreiskulturhaus Mitte durchgeführt. Ob sich da wirklich allzu viele Jazzfans zusammen gefunden haben? Einen Tag später, es war ein Freitag, also „Camera"-Tag, konnte man im „Babylon" Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel" sehen, jenen mittlerweile 25 Jahre alten Film, der eine Szene enthielt, wo Rita Seidel (Renate Blume) ihren republikflüchtigen Freund Manfred (Eberhard Esche) in einem neonkalten Westberlin besucht Gab es Kinogänger, die an jenem 10.November - vielleicht mehr oder weniger trotzig ­nicht vor dem Fernsehgerät saßen oder nicht durch Westberlin bummelten und Freunde, Verwandte besuchten, die an jenem Tag wirklich im „Babylon" saßen und sich Westberlin aus der Sicht der DDR-Frau Rita ansahen? Oder vielleicht ging jemand 17.00 Uhr ins Kino und anschließend in den Westen, um die Babelsberger Fiktion an der gewiß stark veränderten Realität zu überprüfen.

Oder man ging erst 21.00 Uhr ins Kino und sah sich da Luis Bunuels „Viridia-na" an, den mittlerweile legendären spanischen Film, der nie seinen offiziellen Weg in die Kinos der atheistischen DDR gefunden hatte. Wer wollte, hatte ihn zwar längst im Westfernsehen gesehen, oder er war in das katholische Polen gefahren, um ihn dort zu erwischen. Die „Camera im Babylon" präsentierte das Meisterwerk im Rahmen einer Reihe „Spanischer Film unter Franco". Zum letzten Mal übernahm das Archivfilmtheater die Funktion eines Korrektivs, wo versucht wurde, wenigstens teilweise die zahlreichen Lücken zu schließen, die ein staatlich gelenkter Kinospielplan hinterlassen hatte.

In dem Moment, da es einen solchen Spielplan nicht mehr gab, brach für das „Babylon" eine außerordentlich bewegte Zeit an, vielleicht die bewegteste Zeit seiner ganzen Geschichte. Es hatte fast „schicksalshafte" Vorzeichen für das gege­ben, was dem Kino dann in den neunziger Jahren widerfuhr. Wer hatte groß Notiz davon genommen, daß schon 1987 der Haupteingang des „Babylon" sein Vordach

verloren hatte? Solch ein würdevoller Baldachin, der die meisten Kinos (oder Hotels) aus den Häuserfronten heraushob, gehörte jahrzehntelang zu jedem Kino­bau in einer geschlossenen Straßenfront einfach dazu. Hier konnte man sich tref­fen, vor Regen und Schnee geschützt.. Es mag heute vielleicht nur den wenigsten Passanten auffallen, aber der Fußgänger, der alte Fotos vom „Babylon" (oder auch vom alten DEFA-Filmtheater in der Kastanienallee) im Hinterkopf hat und dann die Kinofassade sah, wie sie seit 1987 bis zur Wiedereröffnung 2001 aussah, konn­te sich des Eindrucks einer gewissen Kahlheit nicht erwehren. Hier fehlte etwas, hier wurde ein Gebäude amputiert

Der nächste Schlag erfolgte nur acht Wochen nach der Wende. Am 4.Januar 1990 mußte das Kino - fast genau wie im März 1946 - gewissermaßen über Nacht plötzlich geschlossen werden. Eine defekte Heizungsanlage blies Kohlenmonoxyd in den Zuschauersaal. Der erbärmliche bauliche Zustand des Filmtheaters mach­te sich wieder einmal überdeutlich bemerkbar. Nicht wenige Freunde des Kinos schienen mit dem schlimmsten zu rechnen. Das Schlimmste? Eine Schließung für immer. Das „Babylon" wäre nicht das erste Kino gewesen, aus dessen vorüberge­hender Schließung eine endgültige wurde. Eine „Initiative Berliner Filmkunsthaus BABYLON" bildete sich. Ein Flugblatt wurde gedruckt: mit einem sehr schönen alten Foto, als viele Menschen aus dem Kino (mit seinem Vordach) strömten, wo der 1.Teil von „Der Fall von Berlin" für Deutschland erstaufgeführt worden war (das Bild stammt also vermutlich von Ende Juni 1950). Ein Spendenkonto wurde eingerichtet.

Der Text des Flugblatts war in der für die Zeit charakteristischen, fordernden Sprache gehalten. Ein Flugblatt ist eben ein Flugblatt! Im Januar 1990 war über­all in der untergehenden DDR noch die Losung „Wir sind das Volk!" zu hören. Die Forderung am Rosa-Luxemburg-Platz lautete unüberhörbar: „Rettet das BABYLON - Jetzt!!!": Das Filmtheater BABYLON ist das einzige unter den 21 Ostberliner Kinos, das sich um die VERBREITUNG und FÖRDERUNG von künstlerisch wertvol­len Filmen, im Normalfilmprogramm unterrepräsentierten Filmen, von Experi­mental-, sowie Dokumentar- und Kurzfilmen bemüht.

Der FILM ALS KUNSTWERK steht im Mittelpunkt konzeptioneller und inhalt­licher Arbeit

Darüberhinaus ist es einziger Spielort der Filme des Staatlichen Filmarchivs der DDR seit Schließung der CAMERA in der Oranienburger Straße anfangs der 80er Jahre. In der Öffentlichkeit hat es den Ruf das interessanteste Kino von Ost­berlin zu sein, und so ist es nicht nur für Berliner Cineasten, sondern für viele Menschen Kulturelles Zentrum und Kommunikationsort.

 

  JETZT REICHT ES UNS!

WIR WOLLEN NICHT MEHR GEGEN DEN VERFALL DES KINOS SPIELEN UND VON ZUFÄLLIGKEITEN UND PROVISORIEN UNSERE VORSTELLUNGEN VON KINOKULTUR ABHÄNGIG, WISSEN.

Eine Demonstration zum Magistrat fand statt Rettet das „Babylon"! Im „Camera"-Programmheft 1/1990 war noch angekündigt worden, daß es in der ersten Februarhälfte 1990 vorausssichtlich aktuelle Veränderungen und Ergän­zungen des Programms im „Babylon" geben werde. Im folgenden Programmheft verabschiedete sich die „Camera" jedoch von ihren Zuschauern. Als letzter Film war für den 3.Juli 1990 21.00 Uhr Alexander Kluges „Der starke Ferdinand" ange­kündigt worden - auch er eine Produktion, die nie in den DDR-Kinos zu sehen gewesen war. Trotz der Ankündigung: die „Camera" spielte noch weiter im „Baby­lon" bis zum Ende des Jahres.

Rolf Richter, Filmwissenschaftler, während der Wende einer der Aktivsten bei der Rettung des vom DDR-Film Rettenswerten, setzte sich in Gesprächen mit ver­antwortlichen Politikern und auch immer wieder publizistisch für das „Babylon" ein. Im ersten Teil einer Serie „Kino im Osten" plädierte er in der Illustrierten „Film­spiegel" für ein Überleben des Filmtheaters. Sein. Beitrag war mit einem sehr schö­nen Farbfoto des deutlich renovierungsbedürftigen Gebäudes von Poelzig illu­striert. Richter ging es um das Überleben aller Ostberliner Kinos, doch das „Baby­lon" mit seiner Tradition galt ihm besonders erhaltenswert Es ging ihm letzten Endes um das Bewahren eines Restes von Filmkultur in diesem Teil Berlins: Im Ber­liner „Babylon" war schon mehrmals zu bemerken, daß Filme, von denen behaup­tet wurde, sie seien erfolglos oder doch wenig wirksam, bei entsprechender Wer­bung und Präsentation zumindest für eine Zielgruppe wichtig waren und ein vol­les Haus brachten. Das gilt sogar und gerade für Dokumentarfilme. Wenn es keine Kinobesitzer mehr gibt, die in ihren Kinos diese Experimente wagen, wenn niemand oder zu wenige Genuß daran haben, entsprechende Filme zu fördern, müssen die Spielpläne verarmen. Der deutsche und europäische Film hätte immer weniger Chancen, ganz zu schweigen von den Filmen osteuropäischer, gar von Filmemachern der dritten Welt. Man stelle sich vor, man lebt in Berlin, einer Hauptstadt im Zentrum Europas, und es hängt mehr oder weniger vom Zufall ab, ob wichtige, aber vielleicht nicht gerade für ein Massenpublikum produzierte deutsche, europäische oder Drittweltfilme zu sehen sind. Ich kenne natürlich die in langen Jahren gewachsene, mit Energie, Einfallsreichtum und Risiko betriebe-

ne interessante Off-Szene im Westteil der Stadt, aber mit einer entsprechenden östlichen Entwicklung wäre etwas im Grunde Selbstverständliches verstärkt wor­den. Nun ist genau dies gefährdet»

Wenn es noch eines zusätzlichen Beweises für den Ernst der Lage bedurft hätte: Der „Filmspiegel" veröffentlichte Rolf Richters Beitrag in Heft 5. Einen Monat später, in Heft 7 mußten die Redakteure des Magazins ihren Lesern mittei­len, daß es für die Illustrierte keine Überlebenschance mehr gäbe...

Trotzdem war es eine aufregende, in der Erinnerung ganz gewiß auch schöne Zeit - auch für das „Babylon". Cornelia Klauß, die 1990 kurz nach der Wende durch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als eine der Programmmacherinnen zum „Babylon" kam, erinnert sich an turbulente Vorstellungen. So zum Beispiel an den Januar 1993, als Thomas Heise seinen Dokumentarfilm „Stau - Jetzt geht"s los" über fünf rechtsradikale Jugendliche hier zeigen konnte. Ursprünglich sollte die Premiere im Berliner Ensemble erfolgen, doch dann war das Thema des Films der Theaterleitung des BE offenbar zu brisant, so daß ein Umzug ins „Babylon" erfolg­te. Oder aber auch Winfried Bonengels Dokumentarfilm „Beruf Neonazi" über den Neonazi Ewald Althans, der im November 1993 - dann allerdings schon unter gänzlich anderen, äußeren Bedingungen - im „Babylon" gezeigt wurde. Linksradi­kale Zuschauer protestieren auf ihre Art und Weise gegen die angebliche Ver­harmlosung der neofaschistischen Gefahr durch die Filme, indem sie Buttersäure im Kino verschütteten... Die leidenschaftlichen Diskussionen, die im Anschluß an die Vorführungen fast immer stattfanden, zeigten, daß Kino und Realität hier ganz dicht beieinander waren. Oder aber im gleichen Monat als im Anschluß an den Dokumentarfilm „Die Träume von damals, die Träume von heute" eine Diskus­sion stattfinden sollte, an der auch der CDU-Abgeordnete Heinrich Lummer teil­nehmen wollte. Daraufhin legten Unbekannte vier Brandsätze im Büro des Kinos. Der Staatsschutz ermittelte gegen Unbekannt und vermutete die Täter in der lin­ken Szene. Daraufhin wurde Lummer ausgeladen und eine Nachbarin aus der Rosa-Luxemburg-Straße, Brandenburgs Sozialministerin Regine Hildebrandt ein­geladen...

Nach der Wende schien man sich auch bei der DEFA des fast vergessenen Kinos wieder zu erinnern - wohl eher der Not gehorchend, denn aus eigenem Antrieb. Mittlerweile spielten die großen Ostberliner Kinos ganz andere Filme. Im Oktober 1990 kam Jörg Foths Groteske „Letztes aus der Dadaer" im „Babylon" heraus, genau einen Tag zuvor - am einstigen „Tag der Republik" also - Iris Gusners sieb­zehn Jahre lang verbotener Film „Die Taube auf dem Dach". Es folgten all die mitt­lerweile legendären „DDR-Verbotsfilme" wie. Jürgen Böttchers einziger Spielfilm

 

„Jahrgang 45”, Egon Günthers „Wenn Du groß bist, lieber Adam", im Februar 1992 auch Konrad Petzolds Parabel „Das Kleid". Eigentlich hatte es etwas von Norma­lität. Gerade diese Filme gehörten genau in dieses traditionsreiche Kino. Nirgend woandershin. Doch auch schon diese Filmpremieren hatten den Charakter einer Versammlung der Verschworenen, der Freunde des DEFA-Films. Es waren fast so etwas wie Betriebsversammlungen des längst nicht mehr existierenden VEB DEFA-Studio für Spielfilme. Freunde, Kollegen sahen sich nach langer Zeit wieder und fragten einander über ihre unterschiedlichen Schicksale. Die meisten anderen aber, die die DEFA-Filme vor 1989 nur unter Mühen hatten sehen können, woll­ten sie auch nach diesem denkwürdigen Datum nicht mehr sehen. Die anfangs durchaus vorhandene Neugier aufeinander, verflog allzu rasch. Das, was man die „geistige Mauer" nennen sollte, begann zu wachsen...

Im Januar 1992 deutete die Premiere von Peter Welz" DEFA-Film „Banale Tage" an diesem Ort schon wieder einen Generationswechsel an. Die endgültig letzte DEFA-Premiere im „Babylon" erfolgte dann am 17.November 1992 mit Konrad Weiß" „MiracuIi".

Es gab verschiedene Konzepte für das Überleben dieses Kinos. Eines davon sah ein Überleben des „Babylon" als „multimediale Begegnungstätte" vor. Die Idee war eigentlich gar nicht so schlecht und hatte seine Wurzeln möglicherweise im alten Konzept des Bülowplatzes mit Volksbühne, Stadtbibliothek und eben einem Kino. Vielleicht erinnerte sich auch noch jemand an die diversen Theateraufführungen, die es im „Babylon" unmittelbar nach Kriegsende gegeben hat. Rockkonzerte und Chansonabende fanden im „Babylon" schon in der DDR statt, warum also nicht auch wieder Theateraufführungen? So wurde am 14.Oktober 1992 im Kino die Revolutionskomödie „Die Schuster" des legendären polnischen Theateravantgardi­sten Stanis?aw I.Witkiewicz (Witkacy) in einer Produktion der freien Gruppe Syn­dikat aufgeführt Parallel dazu sollten Filme gezeigt werden: Wajdas „Gelobtes Land", Peter Brooks" „Marat"-Film nach Peter Weiss, Becketts „Film" mit Buster Keaton. Auch der Intendant der Volksbühne inszenierte kurz darauf ein Stück für die Aufführung im „Babylon". Allerdings merkte man sehr schnell, daß Theater und Kino wohl viele Berührungspunkte miteinander haben, daß sie immer mal wieder voneinander profitieren können, daß sie aber im Grunde genommen zwei sehr verschiedene Sachen sind. Castorf probte und inszenierte seine Produktion in der Volksbühne, richtete sie dann lediglich für die speziellen Bedingungen des Kinos ein. Die Bühne eines Kinos ist nun einmal nur unter erheblichen Abstrichen für Theateraufführungen nutzbar. Und Filmvorführungen in einem großen Theater­saal können eigentlich auch nur Ausnahmen sein, nicht viel mehr.

Die ungewisse Zukunft des Kinos brachte Anfang der neunziger Jahre eine relativ große Medienresonanz mit sich. Das „Babylon" war im Gespräch - eigent­lich viel mehr als alle anderen Berliner Kinos, die weiter nichts taten, als Filme zu spielen. Selbst die vielen neuen Kinos, die im Laufe der Jahre rund um das „Baby­lon" entstanden und die durch ihren Spielplan durchaus Konkurrenten des Film­kunsthauses am Rosa-Luxemburg-Platz waren, fanden weitaus weniger Aufmerk­samkeit Martina Pietsch, eine auf ABM-Basis angestellte Programmmacherin des Kinos und vehemente Verfechterin des Konzepts eines multikulturellen Zentrums, sprach im „Neuen Deutschland" davon, man müsse den Rosa-Luxemburg-Platz als kulturelle Insel im künftigen Regierungssitz verteidigen. (...) Vielleicht kommt auf diesem Weg auch wieder eine Kooperation mit dem nahen PDS-Haus in der Karl-Liebknecht-Straße zustande; von der einstigen KPD-Zentrale hatte es früher einen unterirdischen Geheimgang in das Babylon gegeben. Vielleicht sollten wir ihn wieder ausgraben, schlug Martina Pietsch vor: Wer weiß, ob wir ihn nicht noch mal gebrauchen können.75 Der angebliche Geheimgang zum PDS-Haus ­vielleicht flohen hier die Täter der Polizistenmorde von 1929? - bleibt eines der schönen Geheimnisse, das dieses Haus vor uns behält. Auch im neuen Jahrhun­dert, da das Kino eine neue Etappe seines Weges beginnen konnte, blieb der Gang geheim. Niemand hat ihn gebraucht, niemand hat ihn gefunden...

Es gab natürlich auch kritische Stimmen über das „Babylon". Welches Berliner Kino konnte schon zeitweise über fünf Millionen Mark verfügen? Ostmark aller­dings nur, aber immerhin - aus denen nach der Währungsunion dann zweieinhalb Millionen DM wurden. Im Zuge der Vermögensauflösung der SED erhielt das Kino dieses Geld für dringend benötigte Sanierungsmaßnahmen. Damit konnten die Heizung und die sanitären Anlagen erneuert werden - was nach der plötzlichen Schließung vom Januar 1990 notwendiger denn je war. Und damit war dann auch zeitweilig das Überleben nach dem September 1993 möglich.

 

                                                                                                                                             

 

Im September 1993 kam es dann zu der Katastrophe, die für viele Beobachter das Ende des traditionsreichen Kinos bedeutete: ein noch durch Kriegsein­wirkungen defekter Stützbalken des Daches drohte in den Zuschauerraum zu stürzen. Der Saal wurde geschlossen. Das Kino schien am Ende. Was sollte man auch anders tun, hier wären schließlich Menschenleben in Gefahr gewesen - und im Herbst des Jahres 1993 hatte die deutsche Hauptstadt wahrlich anderes zu tun, als sich um ein einsturzgefáhrdetes Kino zu kümmern, Denkmalschutz und Tradi­tion hin oder her. Es gab wichtigeres in Berlin.

Daß trotz dieser eigentlich aussichtslosen Lage dennoch weiter gemacht wurde, scheint heute wirklich fast wie ein Wunder. „Miraculi" im „Babylon". Die Losung lautete: „Babylon im Exil". Warum sich nicht vorübergehende, andere Spielstätten suchen? Da bot sich natürlich der große Partner gegenüber an, die Volksbühne. Dort, im Grünen Salon fanden unter reichlich primitiven Bedingun­gen Filmvorführungen statt. Primitive Bedingungen - wenn der Schmalfilmpro­jektor mitten im Zuschauerraum steht - waren es ganz gewiss, aber ohne solche Bedingungen hätte es nach dem September 1993 kein „Babylon" mehr gegeben. Man sagt den Menschen mit DDR-Sozialisation nach, daß sie durch Einfallsreich­tum und Improvisationsgabe im Leben besser durch schwierige Situationen kom­men. Wenn man nach Beweisen dafür sucht, das Fortbestehen dieses Kinos könn­te ein solcher Beweis sein.

Das „Babylon" fand daneben noch im Kinosaal des Deutschen Historischen Museums ein Exil (als es noch das Museum für Deutsche Geschichte war, hatte hier schon das Archivfilmtheater „Camera" ein Ausweichquartier gefunden). Vor allem aber wurde direkt im Hause, fast acht Jahre lang weiter regelmäßig Kino gemacht Viele wollten es nicht glauben und wunderten sich, daß das „Babylon" trotz Schließung weiter spielt Das war natürlich kein Akt von Anarchie, nicht die Bestimmungen von Polizei und Bauaufsicht wurden ignoriert Der große Saal war und blieb geschlossen. Doch Hans Poelzig hatte 1928 großzügig gebaut Es gab im Kino ein Foyer, das ursprünglich natürlich für Garderoben und Verkaufsstände genutzt und gedacht worden war, warum aber nicht in der Not improvisieren und genau dort Filme vorführen? „Babylon" im Exil - sein Hauptexilsitz befand sich draußen vor der Tür des großen Saales. Auf 67 Stühlen konnte man unter etwas primitiven Bedingungen die Weltfilmkunst erleben. Man hätte es für künftige Generationen dokumentieren sollen: auch hier wurde David O.Selznicks großes Opus „Vom Winde verweht" aufgeführt! Kann man sich ein schöneres Beispiel des Überlebenswillens von Kino vorstellen?

Die vier verschiedenen „Exil"-Spielstellen des „Babylon" brachten natürlich einige logistische Probleme mit sich. Die vielen Kopien mußten durch die Stadt transportiert werden. Das Kino ließ sogar einen Werbetrailer produzieren, wo ein Männchen genervt zwischen den einzelnen „Babylons" hin und her eilt auf der Suche nach dem richtigen Film.

Mitunter konnte man dort fast ein Urerlebnis mit Symbolcharakter haben: 1994 saßen im Foyer des Kinos zirka vierzig, fünfzig Personen auf ihren „Rasier-sitz"-Stühlen und sahen den neuen Dokumentarfilm von Andreas Voigt

 

Liebe, Hoffnung" über das Leben in Leipzig, fünf Jahre nach der Wende, eine Fort­setzung seiner Produktion „Leipzig im Herbst". Da sprachen ganz durchschnittliche Leipziger über ihr Leben in der neuen Zeit, brave Bürger, Müllfahrer und auch Skins. Sie sprachen eben von „Glaube, Liebe, Hoffnung" - und natürlich von ihren Enttäuschungen und Ängsten. Einer jedoch wußte ganz genau, wie es weiter auf­wärts gehen wird in Leipzig: wenn nämlich Fleiß und Energie, Ideenreichturn und Engagement weiter so in der sächsischen Stadt dominieren, dann gehe es auch weiterhin aufwärts. Dozierte von der provisorischen Leinwand herab im vom Ein­sturz gefährdeten „Babylon" der Unternehmer DrJürgen Schneider, mit demen Hilfe wesentliche Teile der Leipziger Innenstadt saniert bzw. neu aufgebaut wor­den waren. Für die meisten der Zuschauer im Kino war dieser Herr Doktor Schnei­der, der „Baulöwe", dem die halbe Leipziger Innenstadt gehörte, ein Unbekannter. Im anschließenden Gespräch erläuterte Regisseur Andreas Voigt, wer dieser kluge, äußerst gewichtige Mann sei und wie schwierig es gewesen war, ihn für ein Inter­view zu gewinnen. Nur ein paar Minuten wurden dem Filmteam bei einer Fahrt vom Flugplatz in die Innenstadt für die Aufnahme von Dr.Schneiders Belehrung gewährt... Man hörte die Erläuterungen des Regisseurs mit ehrfurchtsvollem Stau­nen...

Und die Zuschauer aus dem „Babylon" fuhren nach Hause, wo sie sich in den ARD-„Tagesthemen" noch über die aktuellen Ereignisse des Tages informieren konnten. Da tauchte dann plötzlich schon wieder der Name dieses Dr.Schneider auf. Da wurde der schon wieder oder immer noch staunende Zuschauer darüber informiert, daß dieser Herr, einer der einflußreichsten deutschen Immobilienspeku­lanten, auf der Flucht vor seinen Gläubigern spurlos verschwunden sei... Er, der soe­ben noch seine Zuschauer im „Babylon" belehrt hatte, was zu tun sei beim „Auf­bau Ost", war selbst auf der Flucht.. Der Rest ist neuere deutsche Geschichte.

Film und Realität hatten sich im provisorischen Kinosaal des „Babylon" so eng berührt wie nur selten. Fast acht lange Jahre hielt das Provisorium durch, tat man

das, was der Immobilienspekulant gepredigt hatte, war fleißig, engagiert und hatte immer wieder neue Ideen, um den Spielbetrieb im Kino wenigstens einiger­maßen aufrecht zu erhalten. Vielleicht war es dieses Engagement, diese in der DDR antrainierte Fähigkeit, sich auch im Mangel, im Fast-Nichts einzurichten und zu überleben, die auch das Kino über diese schwierige Zeit hinweg rettete. Die Medien und damit natürlich auch ein großer Teil der Zuschauer hatten das „Baby­lon" bald wieder vergessen. Für viele existierte es nicht mehr, nachdem in den Zei­tungen sein Fast-Ende beklagt worden war. Daß das Kino mitnichten am Ende war, daß hier weiterhin über all die Jahre unter primitivsten Bedingungen ein engagiertes Kino betrieben wurde, war nur den wenigsten bekannt So wurden beispielsweise am 3.Oktober 1999 - weitgehend unbemerkt und ignoriert von der Berliner Öffentlichkeit - im „Babylon" ungarische Stummfilme gezeigt Darunter auch der letzte ungarische Film, den ein Mann namens Kertész, Mihály in Buda­pest gedreht hatte, kurz bevor er nach Wien emigrierte. Seinen Hollywood-Film „Casablanca" konnte und kann man in verschiedenen Berliner Kinos, noch häufi­ger freilich im Fernsehen immer mal wieder sehen, seinen Werbefilm für die unga­rische Räterepublik „Mein Bruder komm? aus dem Jahre 1919 jedoch nur im „Babylon". Eine äußerst wertvolle filmhistorische Kostbarkeit, die aber auch dort im Foyer am Rosa-Luxemburg-Platz nicht einmal ein halbes Dutzend Zuschauer fand! Es war fast so wie in der bereits sehr fernen DDR, wo man als Zuschauer bei einem guten Film mitunter bangen mußte, ob fünf Zuschauer zusammen kamen, damit die Vorstellung überhaupt stattfinden konnte.

Am 2.Mai 2001 wurde das „Babylon" dann wieder sehr feierlich neu eröffnet. Nach relativ kurzer Bauzeit Denn mit der eigentlichen Renovierung, die ja in Wirklichkeit ein aufwendiger Umbau war, konnte erst im April 1999, also zwei Jahre zuvor, begonnen werden. Am 26.Januar 2000 feierte man dann schon das Richtfest Und zum dritten (genau genommen eigentlich vierten) Mal in seiner 72-jährigen Geschichte wurde das Kino eröffnet: 1929 die richtige Eröffnung, 1945 und 1948 die beiden Nachkriegseröffnungen und die vierte dann schon im neuen Jahrhundert Da schien es fast, als sei „Tout Berlin" dabei. Mehrere Senato­ren waren anwesend. Protokollfragen waren zu klären. Das „Babylon" mußte sich in seine Rolle als zweites kommunales Kino der Stadt finden. Es begann die drit­te Epoche in seiner Geschichte. Wieder eröffnet wurde es allerdings in einer gar nicht so guten Zeit für die Kinos in der deutschen Hauptstadt. Die Stadt war - fast genau wie 1929 - mit Leinwänden übersättigt. Die außerordentlich hohen Ein­trittspreise (am Wochenende waren für eine Karte in Berlin in vielen Kinos bis zu 15 DM zu zahlen!)76 trugen ein Übriges dazu bei, daß es sich die potentiellen

Kinogänger überlegten, ob sie einen Film in der Gemeinschaft sehen oder lieber zu Hause auf der Couch bleiben. Traditionshäuser wie das ehemalige U.T. Kurfür-stendamm, die Filmbühne Wien oder das Marmorhaus waren in den neunziger Jahren ungeachtet aller Proteste geschlossen worden. Und das waren Häuser, in denen einst legendäre Filme wie „Das Cabinet des Dr.Caligari" oder Max Rein­hardts „Insel der Seligen" ihre Welturaufführung erlebt hatten. Diese Kinos gehör­ten eigentlich zum kulturellen Berlin wie die Deutsche Staatsoper oder das Thea­ter des Westens. Trotzdem: Grundstücks- oder Hauseigentümer können kalte, kul­turlose Rechner sein. Für sie kann ein Kino, egal wie es heißt, egal was Millionen Zuschauer darin schon erlebt haben, ohne jede Chance sein, wenn es sich „nicht rechnet" - wie der Terminus der Zeit lautete. Kino rechne sich eben an diesen Standorten nicht mehr. Was nutzt da die ganze Tradition, was nutzt Denkmal­schutz und was nützen Proteste, wenn sich ein Kino nicht mehr „rechnet"? Daß das „Babylon" überlebt hat und einer Zukunft entgegen sehen kann, ist in dieser Zeit an diesem Ort eigentlich ein Glücksfall. Es hätte auch ganz anders kommen können.

Dem Zug der Zeit folgend hatte das Kino seine Sitzplatzzahl etwas reduziert 1929 waren es (mit Logen und Rang) 1299 Plätze gewesen, 1948 immerhin noch 1148, seit 1976 - nach dem mit dem Einbau einer Cinemascope-Leinwand ver­bundenen Umbau - dann nur noch 428. 2001 fanden im großen Saal 447 Zuschauer Platz - und im Studiokino (Eingang Hirtenstraße) genau so viele wie zuvor im „Exil", im Foyer: 67. Die Leinwand im Saal war 1929 nur sechs mal vie­reinhalb Meter groß. 72 Jahre später hatte die Leinwand im großen Saal eine Abmessung von 13 mal 7 Meter, im Studiokino 5.5 mal 2.5 Meter. Der Komfort scheint im Laufe der Jahre gewachsen zu sein. Zwei Drittel weniger Plätze, dafür aber weitaus bequemere Sitze mit Beinfreiheit und eine größere Leinwand.

Eine zusätzliche Attraktion konnte bei der Neueröffnung des Kinos geboten werden: schon 1929 bewunderte man im „Babylon" die „größte deutsche Kinoor-chesterorgel" und hob besonders die vielen Geräusche hervor, die man mit ihrer Hilfe erklingen lassen konnte. 73 Jahre später wartete man wieder mit einem Superlativ auf: Geradezu einzigartig ist die 1999 restaurierte Philips-Kino-Orgel: Sie wird als einziges Instrument in Deutschland noch am Original-Standort betrieben»

Sie erklang erstmals wieder am 26.Mai 2001, als Paul Wegeners Film „Der Golem, wie er in die Welt kam" aufgeführt wurde. Wieder schloß sich damit ein Kreis: die Entwürfe für die ausdrucksstarken, sehr aufwendigen Bauten des Films,

der im Ghetto einer mittelalterlichen deutschen Stadt spielt, stammten von Hans Poelzig. Die Bauten standen im Union-Studio und auf dem dazugehörigen Freige­lände in Berlin-Tempelhof. Und der Film selbst lief 2001 bei seiner Wiederauffüh­rung in einem neuen, alten Kino, das einst ebenfalls Hans Poelzig entworfen hatte... Die Uraufführung dieses Films fand 81 Jahre früher, am 29.Oktober 1920 natürlich im vornehmen Berliner Westen statt, im riesigen, über 2000 Zuschauer fassenden Ufa-Palast am Zoo. In dem Kino an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskir­che begleitete die Premiere des Films ein Orchester unter Leitung von Bruno Schulz. Hans Landsberger hatte eine eigene Musik für den Film komponiert, die Kritiker damals eine „sinfonische Dichtung" nannten, die Maßstäbe setze. Nach Landsbergers Musik sei es nur noch schwer möglich, in den großen Kinos die all­gemein üblichen musikalischen Potpourris als Begleitung anzubieten. Im Ufa-Palast am Zoo, einem repräsentativen Bau spielten zeitweise Orchester mit bis zu siebzig Musikern. Im „Babylon" genügte ein Musiker, Jürgen Kurz, der mit der gründlich renovierten Kinoorgel fast ein ganzes Orchester ersetzte. Zuvor erzähl­te in dem voll besetzten Haus der Orgelbauer Dagobert Liers, wie er vor vielen Jah­ren erstmals die Orgelkammer besichtigte, ein Vorhängeschloß aufbrach und nachsah, was der Lauf der Zeit von der bei ihrer Einweihung 1929 hochgelobten Philipps-Orgel noch übrig gelassen hatte. Der Ufa-Palast am Zoo wurde im Zwei­ten Weltkrieg zerstört, andere berühmte Kinos um die Gedächtniskirche ver­schwanden im Laufe der Jahre. Das „Babylon" versucht mit einem umfangreiche­ren Programm denn je weiter zu leben. Mit vier Filmen pro Tag in zwei Sälen - an sieben Tagen in der Woche.

Ob das „Babylon" sich in der nicht leichten Berliner Kinosituation am Anfang des neuen Jahrhunderts behaupten kann: wer weiß... Es gibt positive Anzeichen. Da wurde in dem kleinen Studiokino beispielsweise wenige Wochen nach Eröff­nung ein Programm mit Dokumentarfilmen über das alte Scheunenviertel ange­kündigt Kiezfilme also, irgendwann in den Nachbarstraßen des Kinos gedreht Das Kino mit seinem die große, weite Welt versprechenden Namen zeigt Dokumente aus der unmittelbaren Nachbarschaft Wer will so etwas sehen im Berlin des Jah­res 2001? Viele, sehr viele Kinogänger. Bestimmt doppelt so viele Zuschauer wie das Studiokino Plätze hat Der Chronist mußte unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen, ohne einen Film gesehen zu haben. Wenn das kein gutes Omen ist..

ENDE

ANHANG

Reichs-Kino-Adreßbuch 1930. Zitiert nach: Gero Gandert (Herausgeber): Der Film der Weimarer Republik 1929 - Ein Handbuch der zeitgenössischen Kritik, Walter de Gruyter Berlin/New York 1993, p. 871

2     Reichs-Kino-Adreßbuch 1929. Zitiert nach: Gero Gandert, a.a.O., p.850

3 Alexandra Restaurierungen: Kino Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, Ber­lin-Mitte, Juli/August 1992, p.13

4 Ebenda p.14

5   Mischket Liebermann: Aus dem Ghetto in die Welt, Berlin (DDR) 1977, p.5

6   Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr.89 vom 18.Februar 1920

7     Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr.188 vom 21.Aprif 1929, 1.Beiblatt

8   Berliner Morgenpost, Nr.82 vom 5.April 1929, 1.Beilage

9     Reichsfilmblatt, Nr.15 vom 13.April 1929, Seite 22

10 Deutsche Instrumentenbau-Zeitung vom 25.April 1929

Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr.176 vom 14.April 1929

12 Berlin am Morgen, Nr.25 vom 30.Januar 1931

13 Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr.373 vom 1O.August 1931, Abend-Ausgabe

14 Berliner Morgenpost, Nr.196 vom 18. August 1931

15 Berliner Morgenpost, Nr.191 vom 12. August 1931

16     Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr.376 vom 12. August 1931, Morgen-Ausgabe 1.Beiblatt

17 Jochen von Lang: Erich Mielke - Eine deutsche Karriere, Rowohlt Berlin 1991, p.19ff.

18     Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr.374 vom 11. August 1931, Morgen-Ausgabe 1.Beiblatt

19 Im Stadtbezirk Prenzlauer Berg befand sich der Sitz von Sovexportfilm Deutschland.

20 Wolfgang Harkenthal: Erinnerungen (Manuskript), p.33f.

21 Siehe: Der Tagesspiegel vom 25.August 1991

22 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1999, p.390

23 Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Tagebücher 1950­1959, Aufbau-Verlag GmbH, Berlin 1999, p.360

24 BArch, R 58/3655, 93-139, Fiche 3

25 BArch, NY 6624

26 Ebenda

27

Ebenda

63

Ebenda

28

Ebenda

64

Tagesspiegel, Nr.17 vom 22.Januar 1946

29

Ebenda

65

Marika Rökk: Herz mit Paprika, Universitas Verlag Berlin 1974, p.231

30

Ebenda

66

Filmblätter, Nr.27 vom 2.September 1949

31

Ebenda

67

Sonntag vom 11.April 1948

32

Ebenda

68

Victor Klemperer: a.a.0., p.263

33

Ebenda

69

A.a.O., p.360

34

Ebenda

70

A.a.O., p.455

35

Ebenda

36

BArch, DY 55/V 241/7/61

71

Berliner Zeitung, Nr.44 vom 21.Februar 1948

37

Tägliche Rundschau, Nr.9 vom 24.Mai 1945

72

Nacht-Express vom 22.Juni 1948

38

Tägliche Rundschau, Nr.10 vom 25. Mai 1945

73

Filmblätter, Nr.50 vom 12.Dezember 1952

39

Tägliche Rundschau, Nr.23 vom 9.Juni 1945

74

Filmspiegel, Heft 5/1991

40

Tägliche Rundschau, Nr.14 vom 30. Mai 1945

75

Neues Deutschland vom 17.September 1992

41

Tägliche Rundschau, Nr.132 vom 14.Oktober 1945

76

Auch das            galt im Jahre 2001 nicht gerade als preisgünstig bzw.

„Babylon"

42

Berliner Zeitung, Nr.38 vom 28.Juni 1945

besucherfreundlich: im großen Saal kostete eine Karte 13 DM, die Rangloge

43

Berliner Zeitung, Nr.53 vom 16.Juli 1945

bekam man für 18 DM, die vier Plätze der Parkettloge für 40 DM.

44

Tägliche Rundschau, Nr.90 vom 17.April 1946

77

Berliner Zeitung vom 24.April 2001

45

Berliner Zeitung, Nr.126 vom 1.Juni 1946

46

Berliner Zeitung, Nr.65 vom 19.März 1946

47

Berliner Zeitung, Nr.291 vom 14.Dezember 1947

48

Wladimir Posner, einer der beiden Leiter der Theaterabteilung von Sovexport-film Berlin, Neffe des französischen Schriftstellers russischer Herkunft Vladi-mir Pozner. Ab Mitte 1950 auch erster Generaldirektor des neu gegründeten

Progress-Filmvertriebs

49

Wolfgang Harkenthal, a.a.O.

50

Berliner Zeitung, Nr.vom 6.Mai 1948

51

Ebenda

52

Neues Deutschland vom 6.Mai 1948

53

Wolfgang Harkenthal, a.a.0., p.33

54

Tägliche Rundschau, Nr.104 vom 5.Mai 1948

55

Berliner Filmblätter vom 14.Mai 1948

56

Wolfgang Harkenthal, a.a.0., p34

57

Berliner Zeitung, Nr.195 v. 22.August 1946

58

Nacht-Express vom 25.Juni 1948

59

A.a.O., p.33f.

60

Tägliche Rundschau, Nr.183 vom &August 1950

61

Berliner Zeitung, Nr.181 vom 6.August 195O

62

Tagesspiegel, Nr.49 vom 16.Dezember 1945

 

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