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"They named a brandy after Napoleon, they made a herring out of Bismarck,and Hitler is going to end up as a piece of cheese."

 

 

Golzower Lebenswege: Brigitte und Marcel, D 1999, R: Barbara Junge, Winfried Junge, 110 Min,

Vorfilm: Umstandsbestimmungen eines Ortes, DDR 1984, R: Winfried Junge 10 Min, Eintritt kostenlos admission free, In Anwesenheit der Filmemacher, anschließend Gespräch

Brigitte
„Ich muss damit leben“.

Brigitte, der „lustigen Dicken“, war die Schule von Anfang an schwergefallen. Und so lustig, wie ihre Geschichte begann, blieb sie nicht.

Brigitte hatte sich ihren Beruf zu Abgang der 8. Klasse mehr oder weniger „einreden“ lassen.

Sie hatte nicht lange überlegt, griff nach einer der wenigen in Frage kommenden Möglichkeiten und gab sich damit zufrieden.

Brigitte wurde Geflügelzüchterin in einem der neuen „Kombinate für industrielle Mast“, auf die man im Bezirk stolz war und für die man die Landjugend zu gewinnen suchte.

Sie war nun in Spreenhagen bei Berlin zuhause.

„ich muss damit leben“ bezieht sich auf Brigittes Herzkrankheit. Die Schulärztin hatte sie bei der Elfjährigen erstmal festgestellt. Viele Ärzte dokterten später immer wieder daran herum, ohne wirklich helfen zu können. Des blieb letztlich bei der Verschreibung von Tabletten und guten Ratschlägen zu den laufenden Kontrolluntersuchungen.

Brigittes Geschichte ist eine Aschenputtelgeschichte. Das Pummelchen mit dem geringen Selbstvertrauen war in der Klasse Zielscheibe so mancher Hänselei und meist die Unterlegene.

So lernte sie früh, mit dem vorlieb zu nehmen, was ihr das Leben ließ.

Mit nicht einmal 17 Jahren war da ein Mann, der sie sich nahm, ihr ein Kind machte und wieder verschwand.

Da war ein schlecht bezahlter, aber immerhin sicherer Arbeitsplatz, ein Schonplatz gar am Ende für die Herzkranke.

So brachte sich Birgitte, die jugendliche Mutter, mit ihrem Sohn Marcel durchs Leben, und die sozialen Sicherungen in der DDR ließen sie nicht untergehen.

Auf sich selbst gestellt, begann Brigitte, mit fünfundzwanzig, dann doch, Ansprüche an das Leben zu stellen.

Sie suchte sich einen Mann, heiratete, bekam einen zweiten Sohn, baute sich mit Norbert, dem Maurer, ein Haus aus.

Von ihren gesundheitlichen Problemen war in „Lebensläufe“ schon die Rede gewesen.

Brigitte hatte zunächst nichts dagegen einzuwenden.

 

Aber als der Film 1982 erstmals im Fernsehen war und die mehr behauptet als diagnostiziert erscheinende Herzkrankheit im Dorf zum Gesprächsstoff wurde, bat sie uns, künftig nichts mehr davon zu erwähnen: Das sei nun so, ginge niemanden etwas an.

Sie habe sich damit abgefunden, müsse damit leben.

Das Interview war seinerzeit lange nicht zustande gekommen. Brigitte hatte uns immer wieder vertröstet. Sie wollte offenbar nicht mehr in jeder Lebenssituation Einblick geben, suchte nach einer für sie günstigen und letzten, fand sie aber nicht.

Der Bau des Hauses, der in dem Mangelland DDR nur mühsam vorankam, nahm all ihr Denken und Tun in Anspruch. Wir sollten erst wieder filmen, wenn geschafft war, was sie sich mit Norbert vorgenommen hatte und man es vorzeigen konnte: Wer in Spreenhagen würde das Fernsehen schon in die gute Stube lassen, wenn dort nicht alles tipptopp in Ordnung war.

Wir konnten Brigitte 1983 dann doch überreden, uns schon einmal früher mit der Kamera wieder kommen zu lassen und ließen uns von ihr durch das annähernd fertige Haus führen.

Sie sparte nicht mit Klagen über die viele Arbeit und den“ ganzen Dreck“.

Und dennoch war es wohl ein schöner Augenblick für sie, sich uns nach den vielen Jahren des Alleinseins mit Sohn Marcel in Familie und im schwer errungenen eigenen Heim zeigen zu können.


Es sollte keine zweite Gelegenheit mehr für Filmaufnahmen bei ihr geben.

Und einiges deutete in jenem Gespräch schon darauf hin. Das Haus hatte zuviel Kraft gekostet, und die Ehe war daraus nicht gestärkt hervorgegangen. Brigitte fragte sich plötzlich, was sie bisher von ihrem Leben gehabt hätte. Wann sie es endlich einfacher haben würde.

Sie wollte endlich auch einmal frei von Pflichten sein, mal Urlaub nach Wunsch machen, reisen können. Ehe alles geschafft wäre. „sei man ja alt“. Das Haus war für sie zum „Klotz am Bein“ geworden.

Norbert konnte den Hausbau nur nach Feierabend und vorhandenem Material betreiben. Und betrieb in mit Ruhe. Hausbau konnte in der DDR so zur Lebensaufgabe werden.

Brigittes Ungeduld und Beschwerden teilte er nicht. Am liebsten hätte sie das Haus bereits wieder verkauft.

Wie einfach lebte es sich ihrer Meinung nach zuvor in der fernbeheizten Neubauwohnung.

Auch hatte sie sich dort an ihre Selbstständigkeit als Alleinstehende gewöhnt. Nun nahm sie die vierköpfige Familie völlig in Anspruch.

Dabei hätte sie gern noch eine Arbeit gefunden, die ihr Spaß machte – Krippenerzieherin vielleicht oder Verkäuferin. Aber ihre geringe Schulbildung, die örtlichen Möglichkeiten und vor allem ihre Gesundheit setzten der Sehnsucht nach Veränderung enge Grenzen.

Norbert schien gut zu ihr zu passen. Aber sie vermochte sich wohl schon nicht mehr auf einen „Mann im Haus“ einzustellen. 1983 strengte sie die Scheidung an und rieb sich in deren Folge über Monate mit dem Streit um die Teilung des gemeinsamen Besitztumes auf. Brigitte kämpfte um das Haus, um es wieder zu Geld machen zu können. Wollte in eine Neubauwohnung zurück. Und auch ging es ihr darum, Kai, den ehelichen zweiten Sohn, zugesprochen zu bekommen.

Damals schrieb sie uns einen Brief und bat um Verständnis, dass sie sich nicht mehr filmen lassen wollte. Der Zuschauer solle sie so in Erinnerung behalten, wie sie mit Marcel in „Lebensläufe“ aus dem Bilde geradelt sei. Die Jahre danach erschienen ihr als Irrtum.

Dennoch konnten wir sie noch ein letztes Mal drehen, zusammen mit Marcel, inzwischen 11 Jahre alt, der in einer Sportgemeinschaft Gewichtheben trainierte.

Und nur über ihn, nicht aber über ihre Probleme wollte sie noch reden. Ohne Beisein von Kamera und Mikrofon allerdings zog sie uns nach wie vor über alles ins Vertrauen. Einer Fernsehreporterin hatte sie mal gesagt, das Verhältnis zu den Filmleuten sei „eben wie Verwandtschaft“.

Brigitte hat durch Elternhaus, Schule und Gesellschaft, die eine sozialistische sein wollte, nice ausreichend Orientierung erhalten und wenig aus ihren Leben machen können.

Auf Invalidenrente gesetzt starb sie im Frühjahr 1984 bei der Arbeit im Garten. Mit 29 Jahren. Kurz zuvor hatte sie uns anvertraut, sie fühle sich wohler, wenn sie die ganzen Tabletten nicht mehr nähme…

Nach ihrem Tode wurde entschieden, dass Norbert beider Sohn Kai zu sich nehmen und auch das Haus behalten konnte.

Marcel zog zur Oma nach Golzow, wo Brigitte begraben liegt. Mutters Anteil am Haus bekam er aufs Sparbuch. Er war damals 12 Jahre alt.

 

Mit der Geburt Marcels, des ersten Kindes eines „unserer“ Golzower Kinder im Jahre 1972, war eine neue Generation in die Filmchronik eingetreten und hatte der eine neue Dimension gegeben. Und so ist die Geschichte, die zu erzählen ist, nicht mit Brigittes Tod zu Ende.

Marcel lebt mit der Kamera seit seinen ersten Erdentagen in einer Frankfurter Klinik. Wir drehten ihn als Dreijährigen an der Seite seiner Mutter in dem tristen Spreenhagen. Und wir waren – wir bei Brigitte – seinerzeit am ersten Schultag dabei. In der vierten Klasse erlebten wir seine Schwierigkeiten als Legastheniker  (Lese- und Rechtschreibschwäche), nachdem er bereits im ersten Jahr sitzengeblieben und an eine Spezialschule in Fürstenwalde gekommen war.

Schon damals sehnte sich Marcel nach dem Ende der Schule, wollte zuerst Traktorist werden, dann Binnenschiffer. Da war er bald sechzehn und in Golzow in der 8. Klasse. Seine Leistungen hatten sich unter guten Lehrern derart verbessert, dass man ihm Mut machen konnte, es mit 10 Klassen zu versuchen. Aber Brigitte war auch nur 8 Jahre gegangen, und die kränkelnde Oma wollte, daß  Marcel sobald wir möglich in die Lehre ging, um mit achtzehn auf eigenen Beinen zu stehen.

Eine Lehre als Binnenschiffer konnte er nicht beginnen. Für die wenigen Stellen wurden Zahnklassenschüler bevorzugt. So lernte er in Frankfurt (Oder) und Golzow Betriebsschlosser. Im Sommer 91 wurde er fertig und hätte gern im Treibhauskomplex, wo er zuletzt tätig war, weitergearbeitet. Aber inzwischen gab es die DDR nicht mehr, und die LPG, inzwischen marktwirtschaftlich umgewandelt, entschied angesichts des Arbeitsstellenabbaus, keinen ihrer Lehrlinge zu übernehmen. Dafür stand Marcel die Einberufung zur Bundeswehr ins Haus. Er wollte den Dienst mit der Waffe verweigern, traute seinen Argumenten aber doch nicht. Und als Arbeitsloser?

Die Landwirtschaft Golzow GmbH bot ihren Lehrlingen an, sie für ein Vierteljahr pro forma zu beschäftigen, um ihnen Arbeitslosenunterstützung zu sichern. Marcel hatte sich jedoch bei der Getreidewirtschaft schon selbst für das Vierteljahr Arbeit besorgt: Gelegenheitsarbeit – wie sie früher auf dem Lande üblich war. Wäre er arbeitslos geblieben, hätte er sich nicht mehr filmen lassen wollen. Aber so konnten wir ihn doch drehen: erst als Saisonarbeiter und dann als Soldat bei seinem Schwur auf die Bundesrepublik Deutschland. Zur Jugendweihe hatte er noch gelobt, für die DDR einzustehen.

Dass Marcel finanzielle Probleme haben konnte, sah man zunächst nicht. Der Neunzehnjährige hatte das mütterliche Erbteil nach der Wende in einen gut erhaltenen roten Opel-Kadett verwandelt, der im Dorf auffiel und mit dem der Einberufene auch in seinem Regiment in Goslar am Harz vorfuhr.

Wieder verkaufen wollte er das Auto unter keinen Umständen. Wer einen Wagen hat, hatte schließlich auch eine Freundin. Die hieß Ines und wurde nach der Gartenbaulehre ebenfalls arbeitslos. Inzwischen leben die beiden in Niederjesar unweit von Golzow zusammen und haben einen Sohn. Und wie es das Unglück in Marcels Leben wieder einmal so wollte, kam Friedolin mit einem deformierten Kopf zur Welt.

In einer langen schwierigen Operation haben Chirurgen des Virchow-Klinikums in Berlin ein halbes Jahr später helfen können. Die Sorge um das Kind hat die Lebensgemeinschaft von Marcel und Ines gefestigt. Sie würden auch heiraten, aber sie sagen, so sei es finanziell von Vorteil.

Ines ist notgedrungen Hausfrau. Eine Arbeit fand sich bisher nicht. Marcel aber, der einmal gelernt hatte, Maschinen und Anlagen instandzusetzen, schweißt jetzt bei einem Entsorgungsunternehmen Schrott zu handlichen Stücken auseinander. Den schicken Opel hat er nicht mehr. Der steckt in der Wohnung.

Eine lange Arbeitswoche hindert, ein Hobby zu haben. Was am Leben Freude macht? – „Zu sehen, wie der Kleine groß wird.“

Birgittes Grab und das ihres Vaters, den der Tod der Tochter schwerkrank traf und der ihn nicht verwand, tragen auf dem Golzower Friedhof keinen Grabstein. Die Oma will es so: Wer weiß, ob Marcel im Oderbruch bliebe. Wenn sie nicht mehr lebe, könnte die Grabstelle verkommen, und jeder würde lesen, wer da in der Pflicht sei. Und wenn wir das auch noch filmen…

Brigitte – heimgekehrt nach Golzow und bestattet wie einer dieser 15 unbekannten jungen Soldaten des Jahres 1945, die nicht weit von ihr ruhen. Auch sie: ein Mensch, der kaum eine Spur hinterläßt. Aber es gibt diesen Marcel. Und auch diesen Film, in dem Brigitte weiterlebt und der mehr als es je ein Grabstein könnte, an sie erinnert.

Wohin wird es ihren Sohn in diesem größer gewordenen Deutschland auf der Suche nach Arbeit und einer damit verbundenen Heimat noch verschlagen?

 

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